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"Die Stimme ist wie ein Tier"

Autor(en): Katja Engelhardt am Freitag, 16. September 2011
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Wir treffen Merrill Garbus, alias Tune-Yards, nach ihrem Konzert auf dem Berlin Festival. Auf der Bühne: Lila Kleid, pinker Gürtel, zwei orangefarbene diagonale Linien, die von ihrer Nase aus nach unten verlaufen und lila Socken. Merrill Garbus transportiert eine eigene Ästhetik – westlich modern, aber offensichtlich exotisch geprägt.

Wir treffen Merrill Garbus, alias Tune-Yards, nach ihrem Konzert auf dem Berlin Festival. Auf der Bühne: Lila Kleid (von einem lokalen Designer aus Kalifornien), pinker Gürtel, Stoffkette (von einem Freund gemacht), zwei orangefarbene diagonale Linien, die von ihrer Nase aus nach unten verlaufen, schwarzer Eyeliner (weit über die Augenwinkel hinaus) und lila Socken (so lassen sich die Loop-Pedale leichter bedienen als in Schuhen). Merrill Garbus transportiert eine eigene Ästhetik – westlich modern, aber offensichtlich exotisch geprägt.

M94.5: Deine Musik ist stark afrikanisch beeinflusst und du hast auch einige Zeit in Kenia gelebt. Aber woher kam dein Interesse für Afrika ursprünglich?

Merrill Garbus: Als ich etwa zehn Jahre alt war, haben mein Onkel und meine Tante in Kenia gelebt. Es hat es mich stark beeinflusst, zu wissen, dass dort diese fantastische andere Welt ist, so weit entfernt von dem Ort, an dem ich lebe. Ich habe später Suaheli studiert und hatte immer die Idee nach Kenia zu gehen. Dort habe ich dann auch ein Semester lang studiert. Die Leute assoziieren Gesichtsbemalung als Stammesangelegenheit. Ein Bestandteil meines Studiums war, die westliche Sicht auf Afrikaner als Stammesangehörige zu betrachten. Das sind sie zwar, aber nicht so, wie man denkt: Komische Sachen tragend, herumspringend, in der Savanne mit Leoparden und so. Ich hatte immer diese Fantasie. Und für mich ist die Gesichtsbemalung eine Art Maske. Wenn ich auf die Bühne gehe, bin ich in einer anderen Welt. Es geht nicht direkt um einen Stamm. In vielen Nationen bemalt man sein Gesicht, um Zusammengehörigkeit zu zeigen. Es geht um eine Gruppenerfahrung. Deswegen mag ich es, wenn das Publikum auch Gesichtsbemalung trägt. [Anm.: Die Botschaft funktioniert scheinbar sehr gut, denn einige Besucher haben sich tatsächlich bunt bemalt.]

Während deines Konzerts vorhin hat das definitiv funktoniert. Als du begonnen hast und es ging „Do you wanna live?“, haben die Leute wirklich zurückgebrüllt: „I wanna live“! Das war sehr energetisch! Hast du vielleicht eine ganz eigene Philosophie, woher diese rein menschliche Energie kommt?

(lacht laut) Das wüsste ich gern! Denn ich muss das üben. Für mich ist das eine Art intensiver leben zu wollen, denn diese Art Energie bringt dich durch den Tag. Und ich kann nicht mehr von Moment zu Moment leben. Gerade mit Tune-Yards muss ich größer denken. Das Leben auf Tour ist recht hart für mich. Ich glaube nicht, dass ich dafür geschaffen bin. Was mich inspiriert, sind Veränderungen. Also ich will, dass während einer Performance etwas zwischen mir und dem Publikum passiert: Irgendeine Verschiebung, eine Änderung. Für mich ist diese Energie etwas, das voran bringt.

Das Bild, das du in "Killah" schaffst, „I`m a new kind of woman, I´m a new kind of man, come and come and get me as quick as you can“ – ich habe mich immer gefragt, ob das ein Abbild einer bestimmten Beziehung ist oder ob es nicht um einen viel allgemeineren Zustand geht: Die neue Fraulichkeit und die neue Männlichkeit.

Es ist ein wenig von beidem. Als ich aufgewachsen bin, war ich mir nicht sicher, wie ich als Frau sein sollte. Ich fand nicht, dass ich in das Rollenbild passte. Und darum geht es in vielen meiner Texte: Das Erfüllen einer Erwartung, davon wie eine Frau sein soll. Ich könnte also genauso eine neue Frau sein, wie ich auch ein neuer Mann sein könnte, zumindest in meiner Auffassung davon, was das ist. Unsere Generation scheint das schon eher so zu sehen, dass Geschlecht, Sexualität und was für eine Person du bist -  dass das alles viel weiteren Definitionen folgt als früher. Ich spiele gern damit. Manchmal bin ich etwas unsicher wegen meiner Stimme, weil sie sehr tief ist. Ich höre oft, oh ich dachte du wärst ein Mann! Ein Teil von mir fragt sich dann: Bin ich mehr ein Mann als eine Frau? Anstatt mich zu verunsichern, schreibe ich Texte darüber.

Aber du arbeitest nicht so vielseitig mit deiner Stimme, um das zu umgehen?

Nein, denn die Stimme ist irgendwie wie ein Tier. Ich möchte mehr darüber lernen und sie entdecken. Zum Glück fühle ich mich darin sehr frei. Meine Stimme ist, wie sie ist und ich werde mein Leben lang lernen. Niemand kann mich so verunsichern, dass ich aufhören würde sie zu erforschen.

Ist es auch das, was im Video zu "Bizness" passiert? Wenn diese Schulkinder in der Klasse sitzen und nach und nach anfangen zu singen. Wie sie immer lauter singen und dabei in ihrem Gesang immer ursprünglicher und bestimmter werden?

Ich liebe diese Kinder, es war wundervoll sie im Video zu haben. Auf „Bird Brains“ ist ein Kind zu hören, das ich als Nanny betreut habe. Es war sehr inspirierend mit ihm zu arbeiten, als er die ersten Worte entdeckt hat. Wir Erwachsenen können davon lernen, von dieser Unschuld, von diesem ersten Moment, wie du gesagt hast, der Willensäußerung, diesem: Ich will das!

Ich hatte auch den Eindruck, dass du dieses Ursprüngliche benutzt, weil das Lernen an sich immer mit einer Entfernung vom Natürlichsten einhergeht. Sobald man lesen lernt, wird man zum Beispiel nie wieder Buchstaben ansehen und sich fragen, was sie wohl bedeuten. Das sind Lernprozesse, die man nicht rückgängig machen kann.

Ja, das ist wahr. Ich denke, dass "whokill" einfach viele Entscheidungen gefordert hat. Ich habe in letzter Zeit oft darüber nachgedacht. Bei diesen Entscheidungen gehst du diesen einen Weg und lässt alles andere zurück. Du kannst nicht beides haben. Ich willige ein, mehr zu lernen und je mehr ich lerne, desto mehr merke ich, dass ich nicht mehr alles machen kann. Ich kann mich nicht mehr mit denselben Leuten umgeben oder muss auch mal schmerzhafte Veränderungen durchmachen. Wie heißt es: ignorance is bliss. Sobald das Wissen vorhanden ist – dann wird’s schwierig.

Was genau sind das für Veränderungen gewesen?

Ich habe Montreal verlassen, was ich sehr traurig finde, und auch meine alte Band, Sister Suvi und diese wundervolle, juvenile Zeit, die ich während "Bird Brains" hatte. Ich fühlte mich frei, freier als auf der High School zum Beispiel. Jetzt bin ich zwar auch frei, aber anders. Ich bin zurück in Kalifornien, wo ich legal lebe, statt illegal. Ich zahle Miete. Ich habe eine Küche mit Essen drin, wo ich für mich koche, lebe gesünder und verantwortlicher. Diese Dinge sind mir jetzt wichtig. Ich habe viel hinter mir lassen müssen. Aber darum geht es beim Erwachsenwerden ja.

Dein erstes Soloalbum, "Bird Brains", hast du noch zu Hause aufgenommen. Der Nachfolger "whokill" wurde wiederum in einem professionellen Studio produziert. Hattest du das Gefühl jetzt reif dafür zu sein?

Ich habe mich lange dagegen gewehrt. Ich liebe "Bird Brains" und den Prozess dahinter! Ich habe jeden Moment mit meinen eigenen Ohren gehört und eigenen Händen gespürt, ich war in jedem Moment dabei. Es lag hauptsächlich am Song "Bizness" [Anm.: auf "whokill" veröffentlicht]. Wir haben ihn auf Tour so oft gespielt, dass ich diesen speziellen Klang im Ohr hatte – mit Publikum in einem großen Club. Ich habe angefangen es selbst zu produzieren und es fiel in sich zusammen. Es hat nicht funktioniert. Ich habe festgestellt, dass ich mir selbst im Weg stand, indem ich stur war und alles selbst machen wollte und dass meine Musik in einem größeren Raum existieren kann, einem, den ich zwar nicht völlig kontrollieren kann, wobei mir aber andere helfen. Es gab noch eine andere große Erwachsenwerden-Entscheidung: Ich habe "Fiya" für einen Blackberry Fernsehspot bereitgestellt, das war eine extrem schwierige Entscheidung. Auf einmal war da all dieses Geld. Das war die perfekte Möglichkeit, ein Album so aufzunehmen, wie ich das wollte, ohne einen Plattenvertrag zu haben, das habe ich erst später gemacht. Ich konnte plötzlich die Leute bezahlen, die mit mir arbeiten: Die Musiker, die Ingenieure, die Crew.

Du bist also nicht nur für dich selbst verantwortlich, sondern auch für die Leute um dich herum, die von ihrer Arbeit mir dir und somit auch von deinem Geld leben – das hört sich fast nach einem Vorstandsposten an.

Ich weiß, das ist so interessant! Die Dinge sind auf einmal nicht mehr nur schwarz-weiß. Es ist nicht immer nur schlecht, deinen Song zu verkaufen. Denn auf eine, wenn auch kleine, Art unterstütze ich eine Gemeinschaft von Menschen. Und manchmal denke ich mir: Ich will nicht touren und Benzin verbrauchen. Aber dann wieder stelle ich all diese wundervollen Musiker ein und Künstler, die unsere T-Shirts designen oder Poster drucken. Es ist erstaunlich, was für eine andere Bedeutung Geld bekommt.

Merrill Garbus hat sich früher als Puppenspielerin verdingt. Ihre Paradevorführung war “A Fat Kid`s Opera”, basierend auf dem satirischen Essay “A Modest Proposal” von Jonathan Swift. Der Ire schlägt darin vor, Babys ärmlicher Landsleute gewinnbringend als Nahrungsmittel einzusetzen. (Merrills Hauptfigur trägt den Namen Fathilda. Sie wird von ihren - also nicht sonderlich armen - Eltern gemästet, um dann verkauft zu werden.) Dazu hat sie auf einer Ukulele gespielt. Aber: „There`s not that much money in music, but there`s way less money in puppeteering.“ Ihre Mutter schenkt ihr eine größere Ukulele, Merril beginnt Songs zu schreiben und mit Loops zu arbeiten - Tune-Yards wird geboren und immer weiter verfeinert. Sie liebte die Kombination von Musik und der Aussage der Texte. Die verschiedenen Lagen von Poesie, die Lyrics ermöglichen und das Zwischenspiel von Text und Musik.

Merrill Garbus: Ich habe gerade erst angefangen, an der Oberfläche der Möglichkeiten zu kratzen. Ich bin stolz, auf das, was ich bisher erreicht habe. Aber ich denke, ich kann da tiefer gehen. Ich kann bessere Songs schreiben und könnte meine Musik mit noch bedeutenderen Lyrics für mich und andere kombinieren. Ich würde auch gerne mehr durch Afrika touren. Die Leute sagen, da wäre viel Afrikanisches in meiner Musik. Und da ist schon was dran, aber auch nicht unbedingt. Es geht um eine amerikanische Frau, die afrikanische Musik wahrnimmt. Das ist alles. Sehr wenig ist wirklich erlernt. Ich habe westafrikanischen Rhythmus und Tanz studiert. Aber als Schülerin der Musik habe ich noch sehr viel zu lernen. Dann kann ich meine Kunst noch viel reicher werden lassen.

Du sagst, da wäre noch sehr viel zu tun. Aber wenn du tiefere Lyrics schreiben willst, musst du dich selbst noch besser kennenlernen. Das wiederum erfordert viel Selbstreflexion und bedeutet einiges an Arbeit.

(lacht) Stimmt! Und nicht sehr leicht, wenn man auf Tour ist, im Van.

Du bist aber auch viel auf Tour. Wie schaffst du das dann?

Das weiß ich noch nicht. Denn jetzt bin ich eine Musikerin, habe ein Label und veröffentliche Platten. Eine Tour dauert ein Jahr oder anderthalb Jahre pro Album. Zu "whokill" hatte ich dann sechs Monate frei – das hatte ich zuvor Jahre lang nicht. Ich war nie mehrere Monate an einem Ort. Ich schreibe, wenn ich zu Hause bin, laufe, Yoga mache und meditiere. Ich lebe in Oakland, das ist ein sehr inspirierender Ort in Kalifornien, wegen seiner Reibung und Ruhelosigkeit. Es ist unangenehm für mich dort zu leben. Und diese Unbequemlichkeit ist eine Quelle der Energie, von der du vorher gesprochen hast. Es ist eine Kombination aus Selbstreflexion und dieser Irritation, wie ein Juckreiz, den man durch Kratzen stillt.


Das Interview wurde geführt von Katja Engelhardt und Fiona Fissel.


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