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Ein vergessenes Thema: Bildungsstreik in Chile

Autor(en): Klaus Muth am Mittwoch, 8. Februar 2012
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Chile kämpft vereint für ein besseres Bildungssystem und eine neue Gesellschaftsordnung. Losgetreten haben die Protestwelle Schüler und Studenten: Sie besetzten Schulen und Universitäten, protestierten und manifestierten.
Chile kämpft vereint für ein besseres Bildungssystem und eine neue Gesellschaftsordnung. Losgetreten haben die Protestwelle Schüler und Studenten: Sie besetzten Schulen und Universitäten, protestierten und manifestierten. Drei wichtige Vertreter der Proteste sind auf Deutschlandtour, um von ihren Bemühungen zu erzählen. Am 7. Februar waren sie in München.
von Thomas von Eichhorn

In Chile bebt seit April 2011 die Erde, und ausnahmsweise ist es keine Naturkatastrophe. Angefangen hat es mit Schülern und Studenten, die monatelang Bildungseinrichtungen besetzten, nach und nach wurde eine riesige (soziale) Bewegung daraus. Professoren, Minenarbeiter, Kommunisten, Umweltaktivisten, Ureinwohner und ganze Familien schlossen sich an. Camila Vallejo, die als charismatische Anführerin des Protestes von den Lesern der britischen Tageszeitung „Guardian“ zur Person des Jahres 2011 gewählt wurde, sagt auf ihrem Besuch in München: „Das ist mehr als ein Bildungsstreik, es ist ein sozialer Streik.“ Aus den Demonstrationen für eine bessere Bildung wurde der Ausdruck eines allgemeinen Unwohlgefühls. Die Ziele der Bewegung sind neben freiem Zugang zu Bildung eine transparente Politik, Beteiligung an politischen Entscheidungen und Gleichheit.

Konsum und Wettbewerb im Vordergrund

Hintergrund ist das marktwirtschaftliche System in Chile, das seit der Verfassung 1980 besteht. Damals herrschte noch das Militärregime um den Diktator Augusto Pinochet über Chile. Pinochet führte schlagartig ein neoliberales Modell nach dem Vorbild der USA ein, bei dem Konsum und Wettbewerb im Vordergrund stehen. Das Regime verringerte die finanzielle Förderung öffentlicher Universitäten und unterstützte die Einrichtung privater. Heute sind drei Viertel der Universitäten privat.
Chiles Wirtschaft wuchs, aber damit auch die Spannung in der Gesellschaft. Die Schere zwischen Arm und Reich klaffte weiter auseinander. Karol Cariola, eine der zentralen Figuren der Protestbewegung, sagt: „Die oberen fünf Prozent der Gesellschaft verdienen 800-mal so viel wie die unteren fünf Prozent.“ Das drückt sich vor allem in der Bildung aus: Viele ärmere Studenten mussten sich das Studium durch überteuerte Kredite finanzieren und stehen nach dem Studium vor einem großen Schuldenberg. Wenn überhaupt gibt es Stipendien nur für die Ärmsten der Armen.

Massentanz und Gewalt

Die Intensität der Proteste ist sehr unterschiedlich. Auf der einen Seite gab es Gewaltausbrüche von Polizei und Demonstranten, auf der anderen Seite einfallsreiche Manifestationen: einen Massentanz zu Michael Jacksons „Thriller“, einen halbstündigen Kussmarathon unter dem Motto „Mit Leidenschaft für das Recht auf Bildung“ und einen 1800-stündigen Staffellauf um den Präsidentenpalast.
1800 ist eine zentrale Zahl der Proteste. Denn zur Zeit studieren 300.000 Studenten an staatlichen Einrichtungen, deren Studiengebühren zusammengerechnet im Jahr 1,8 Milliarden Dollar betragen, also 1800 Millionen Dollar.

Gesellschaftliche Reifung

Was die Demonstranten erreicht haben, ist vor allem eine große Mobilisation der Bevölkerung, Camila Vallejo bezeichnet das als „gesellschaftliche Reifung“. Mehr als eine Million Leute sind im Verlauf der Proteste auf die Straße gegangen, die Beliebtheit des Präsidenten Sebastián Piñera ist auf 23 Prozent zusammengeschmolzen. So hat die Bewegung der Regierung kleine Eingeständnisse abgerungen. Karol Cariola: „Sie haben die Zinsen für Kredite von 10 Prozent auf zwei Prozent gesenkt. Die Differenz von acht Prozent zahlt der Staat.“ Die große Bildungs- und Verfassungsreform, die sie fordern, hat die Bewegung zwar noch nicht erreicht, aber sie wirkt unermüdlich. Ganz getreu dem Schlachtruf, der auf chilenischen Protesten immer wieder erklingt. „El pueblo unido jamás será vencido“, zu deutsch: „Ein geeintes Volk wird nie besiegt werden.“

Die Vergessenen Themen hört ihr jeden Mittwoch in der Hörbar um kurz nach 17 Uhr.

Bildquelle:photos/thewaz/ (flickr.com), CC BY-SA 2.0
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