Theaterkritik
Zurück zum Ur-Sprung
Das Stück „Ur“ im Residenztheater handelt von dem kulturellen Gedächtnis der Menschheit und wie das mit Vergänglichkeit und Hoffnung zusammenhängt.
Die neue Spielzeit hat begonnen und auf der Bühne des Marstalls wird das Stück „Ur“ des kuwaitischen Regisseurs Sulayman Al-Bassam inszeniert. Auf drei verschiedenen Sprachen, deutsch, englisch und arabisch, wird zu vier unterschiedlichen Zeitpunkten der Menschheitsgeschichte das Schicksal der heutigen Stadt Palmyra erzählt. Das Ensemble setzt sich aus SchauspielerInnen des Residenztheaters und dem arabischsprachigen Ensemble der SABAB Kompanie zusammen.
Es war einmal vor langer Zeit
Im Jahre 2004 vor Christus stand an der Stätte wo heute Palmyra liegt die sumerische Stadt Ur. Noch heute existiert ein altes sumerisches Klagelied über seine Zerstörung, das fragmentarisch auf einer Tontafel erhalten ist. Dieses Lied bildet in Verbindung mit zahlreichen historischen und zeitgenössischen Quellen, wie archäologischen Aufzeichnungen vom Beginn des 20. Jahrhunderts oder der Skizze einer Archäologie des Städtischen, die Grundlage, die Al-Bassam für die Entstehung seines Stücks heranzog.
Zurück zum Ursprung
Ur ist die Stadt der Urzeit, die Stadt des Ursprungs, vermutlich die Geburtsstadt Abrahams in Mesopotamien. Das Stück ist ein Geisterstück, das von den Reliquien früherer Zeiten erzählt, die einen Einfluss auf Gegenwart und Zukunft haben. Alles ist verbunden, durch Schrift, durch verschiedenste Artefakte, Überbleibsel menschlicher Kultur, die ihren Weg durch über 3000 Jahre menschliche Geschichte schreiben.
1. Zeit - 2004 vor Christus
Ur ist eine der ältesten Städte der Menschheit. Regiert wird sie von der Herrscherin und Göttin Nin-Gal. Gespielt wird Nin-Gal von Lara Ailo, die in einem golden funkelnden Kleid und ihrer tiefen, kraftvollen Stimme wirklich wie eine Göttin wirkt. Die junge Schauspielerin ist als Teil der jüngsten Generation von Geflüchteten aus Syrien nach Deutschland gekommen. Nin-Gal weist die Soldaten an, die Tore von Ur stets geöffnet zu lassen, die Kinder der Bauern sollen lernen Gedichte zu schreiben, die Frauen sollen stets in Freiheit leben. Sie fordert Poesie statt Gewalt, Abkehr von männlicher Dominanz und Liebe wo nur Krieg ist. Ihr Geliebter ist ein von ihrem Vater verstoßener Kriegsgefangener. Für ihr höchstes Ideal, eine Stadt, die der Poesie verschrieben ist, nimmt sie die Zerstörung von Ur in Kauf. Sand rieselt langsam aber beständig von der Decke, wie eine Sanduhr, die sich langsam dem Ende zuneigt.
2. Zeit - im Jahr 1903
Im Jahr 1903 sind historischen Vorbildern entnommene Archäologen der deutschen Orient-Gesellschaft dabei Ausgrabungen an Fundorten von Babylon zu tätigen. Durch Lautsprecher ertönt während dieser Zeitebene das Summen von Fliegen. Es entsteht der Eindruck als umgebe einen eine unerträglichen Schwüle und als befände man sich in einer endlosen Wüstenlandschaft. Dieser Handlungsstrang beschäftigt sich mit den kolonialen Bestrebungen der europäischen Mächte. Der Kilimandscharo wird zur Zeit Kaiser Wilhelms als höchster Berg Deutschlands betitelt. Die sumerische Geschichte soll als Wiege des Christentums und vermeintlicher Ursprungs der „arischen“ Kultur dienen. An Kaiser Wilhelm schicken die Archäologen regelmäßig Berichte von den exotischen Wundern des Abendlandes. Es entbrennt ein Streit über die Ursprünge der menschlichen Religionen und die Deutungashoheit über die ausgegrabenen Fundstücke.
3. Zeit - im Jahr 2015
Im Jahr 2015 wird der syrische Archäologe Khaled Al Assad, der die kostbaren Kulturschätze im heutigen Palmyra schützen möchte, vom IS ermordet. Der IS will die Zeugnisse der vorislamischen Zeit zerstören, ihre Bewahrer töten. Arabische Städte, die reich an kulturellem Erbe sind, wurden in den vergangenen 5 Jahren als Folge von Kriegen, Unterdrückung und Kämpfen zerstört: Aleppo, Gaza, Bengasi und Sanaa sind Schutt und Asche, anstatt Lebensräume für Menschen. Wie einst die Stadt Ur sind ihre immateriellen und materiellen Schätze zerstört worden. Der Kreislauf menschlicher Habgier, Vorurteile und Gewalt geht immer wieder von vorne los ohne ein Ende zu nehmen. In der Inszenierung werden die Kämpfer des IS jedoch als lächerliche Karikatur dargestellt. Dieser zweifelhafte Versuch die Ernsthaftigkeit aus der Thematik zu nehmen wirkt gerade in der zeitlichen Ebene der Gegenwart makaber.
4. Zeit - im Jahr 2035
Im Jahre 2035 befindet sich an der Städte wo einst Ur lag eine futuristische Stadt, vollständig wieder aufgebaut, dank des globalen Kapitals. Ein Paar in hohen Schuhen und fremd anmutender Kleidung schreitet durch ein Appartement. Materiell fehlt es ihnen an nichts, doch unter der Oberfläche tun sich Abgründe auf. Das Paar besitzt eine Büste Nin-Gals, der Mann möchte, dass sie aus Gründen der Ästhetik und des kulturellen Kapitals die Wohnung dekoriert. Die Frau erkennt den Geist Nin-Gals darin, fühlt den Schmerz der Göttin über das was ihrer Stadt wiederfahren ist, sie weiß, die Göttin lebt in ihr weiter und ist noch immer nicht frei.
Elemente in Laufe der Zeit
Elemente wie Feuer, Sand, Stein und Luft werden im Stück zu symbolischen Trägern von Zeit und Polarität, Zerstörung und Wiederkehr. Zwei Flammen, die sich von zwei Enden einer über der Bühne gespannten Schnur immer weiter auf einander zubewegen, erlöschen als sie sich in der Mitte treffen. Ein Turm aus schweren Steinen, stürzt schließlich ein. Die Königin Nin-Gal, fliegt durch die Lüfte, ihr gold-glänzendes Kleid ist am Ende von einem matten braun, da vollständig mit Sandstaub bedeckt.
Zu viel gewollt - zu komprimiert
Das Stück überzeugt durch die Aktualität der Thematik, die Auseinandersetzung mit der Universalität menschlicher Schwächen und Abgründe. Die Zerstörung von über jahrtausendealten Kulturgütern, Stereotypisierung anderer Gesellschaften und die ewige Habgier der Menschheit sind zentrale Themen des Stücks. Die Inszenierung läuft jedoch Gefahr zu viel zu wollen und gerade deshalb nicht genug zu erreichen. Die 90-minütige Inszenierung verläuft sich teilweise in den vielen Zeitebenen, Charakeren, Stimmungen und Thematiken, die es zu transportieren versucht.
Am Ende bleibt der Ursprung
Die Bildgewalt und die Symbolik überzeugen jedoch und vermitteln das Herzstück der Inszenierung: die Zeitlosigkeit und nicht abnehmende Bedeutsamkeit der Thematik. Am Ende überlebt die Idee von Nin-Gal. Sie entscheidet anders als alle Herrscher vor ihr. Diese Idee überdauert die Zerstörung von Ur und lebt als Mythos in einer unbekannten Zukunft fort. Wird es jemals möglich sein eine offene Stadt wie sie sich Nin-Gal erträumt hat, gewaltfrei bestehen zu lassen? Ist eine offene Gesellschaft, eine Welt ohne (ideologische) Grenzen möglich?
Am Ende bleibt Hoffnung.