Platten vor die Säue
Björk - Utopia
Mit ihrem "Tinder"- Album hat Björk mehr als ein Match: Mit Flöte & R2-D2 im Gepäck wagt sie den Beginn einer neuen Liebe und schwebt dabei durch ihre Utopie.
Islands Pop-Ikone Björk Guðmundsdóttir ist mit ihrem 9. Album Utopia zurück. Produziert wurde das Album - wie schon der Vorgänger "Vulnicura", - vom vielversprechenden DJ und Electro-Avantgardist Arca. Der junge, venezolanische Produzent Alejandro Ghersi (Arca) ist seit mehreren Jahren für seine Zusammenarbeit mit Kanye West oder FKA twigs bekannt. Zusammen mit Björk ist dieses Mal Utopia herausgekommen, das eine neue Richtung einschlägt und dabei Björks unverkennbarem Stil treu bleibt: Experimentell, vielschichtig und größtenteils schwer zugänglich. Ein Gegenentwurf zur Mainstream-Popmusik.
"Tinder"- Album
Ihr neues Album Utopia bezeichnet Björk als ihr Tinder-Album. Der Fan, der jetzt hofft sie im Tinder-Dschungel anzutrefffen, wird aber enttäuscht: Nein, Björk ist nicht auf Tinder aktiv und nutzt die App nicht. Vielmehr steht Tinder für ihren emotionalen Neuanfang, für ihre neu gewonnene Unabhängigkeit, sowie die Bereitschaft jemand Neues kennenzulernen. Nachdem sie in ihrem letzten Album "Vulnicura" ihren Trennungsschmerz verarbeitet hat, ist sie jetzt wieder bereit für eine neue Liebe. Im Gegensatz zu der schmerzhaft, traurigen Stimmung in "Vulnicura", verbreitet Utopia eine allgemein positivere, harmonischere und ruhigere Atmosphäre. Trotzdem ist Björks Hang zur Dramatik und Melancholie auch auf Utopia zu spüren. Die 14 Tracks auf dem knapp über eine Stunde umfassenden Album schwanken zwischen genialem Chaos, Strawinksy-ähnlichen Kompositionen, romantischen Balladen und experimentellen Klangerlebnissen.
Magischer Neuanfang
In den ersten zehn Sekunden von "Arisen My Senses" (Opener), öffnet sich das Tor zu einer futuristischen Galaxie: Vögel zwitschern, ein Lebewesen à la R2-D2 bewegt sich direkt auf einen zu und zieht einen in seinen Bann. Harfenakkorde leiten den Gesang Björks ein, während sich im Hintergrund fast unbemerkt eine bedrohliche Geräuschkulisse aufbaut. Björks Gesangsspuren verfilefachen sich, bis nurnoch einzelne Wortfetzen wie wild und unkontrolliert durch den Raum schießen. "Nebenbei"-Hören ist deswegen so gut wie nicht möglich. Wie bei Björks bisherigen Alben muss man sich auch dieses Mal auf ihre Musik komplett einlassen. Mit jedem Mal hören, entschlüsseln sich einige Details und Strukturen, die einen das erste Mal zum Teil ürberfordern. Der chaotische Wahnsinn nimmt irgendwann Form an und versetzt einen in einen angenehmen Rauschzustand. Auf diesem Trip wechseln sich dramatische Momente dicht ab mit zerbrechlich-minimalistischen.
Utopie der Liebe
Generell gibt es bei Utopia keine Stimmung, die sich durch das gesamte Album hindurchzieht. Utopia wirkt eher wie die Suche nach einer Utopie der Liebe, als nach einem Aufenthalt dort. Der Neuanfang ist daher nicht nur magisch und positiv, sondern konfrontiert Björk auch mit Ängsten, Zweifeln und Problemen. Jeder Song bringt seinen eigenen Charme und ein eigenes Abenteuer mit. Zwar serviert Björk zwischendrin auch leichte Kost, wie bei "Blissing me" mit größtenteils minimalistischer Begleitung einer Harfe, oder in "Utopia", "Paradisia", "Saint" und "Tabula Rasa". Dafür folgen direkt danach schwer zugängliche Tracks wie "Sue Me", "Loss", oder "Body Memory". Die Vorabsingle "The Gate" ist ein spirituelles Liebeslied. Es soll metaphorisch das Tor bezeichnen, an dem Björk Liebe empfängt und gibt.
10-minütiges Herzstück
Das Herzstück des Albums ist der 10-minütige Song "Body Memory". Auf dem vorherigen Album Vulnicura gab es ebenso einen 10-minütigen Track, daher liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei "Body Memory" um eine (positive) Antwort darauf handelt. Die Texte lesen sich wie ein Tagebucheintrag in Gedichtsform. Jeder Satz, jedes Wort und jede Silbe kostet Björk beim Singen bis ins Unerträgliche aus. Das liegt wohl daran, dass Björk in ihren Texten durchweg ihrem Innenleben Ausdruck verleiht. Gerade deswegen ist Björks gefühlvoller Gesang so authentisch. Bei "Body Memory" steht jeweils ein Vers für ein bestimmtes Thema, bzw. einen Lebensbereich: Land/ Natur, Schicksal, Liebe, Sex, Stadtleben und den Sorgerechtsstreit für ihre Tochter gegen ihren Ex-Mann. Aus der eher zurückhaltenden Soundwolke taucht bei der Textzeile "Fought like a wolverine" plötzlich ein Raubtiergeräusch auf. Auch in "Sue Me" singt sie über die Situation, dass ihr Kind womöglich unter der Trennung und den Spannungen zwischen ihr und ihrem Ex-Mann leidet:
It's so unfair
The sins of the father
They just fucked it all up
We had the best family
We had it all
We had it all in our hands
He pulled us through the wringler
Narcissistic
Gebt Björk eine Chance & wischt nach rechts!
Wer eine Vorliebe für seichte Popmusik verspürt, ist mit Utopia nicht gut beraten. Björks Musik entspricht eben absolut nicht dem herkömmlichen Superlike-Mainstream-Typ, aber ist dafür umso interessanter. Zugegeben, leicht zugänglich ist Björks Stil auch noch nie gewesen. Utopia ist ein abwechslungsreiches Album, das alle Facetten von Björk zeigt. Die verträumt, romantische Seite, genauso wie ihre düsterere, dramatische Seite. Einfach ein geeignetes Album zum Kennenlernen! Wenn man es mit Björk mal versuchen will (und das sollte man unbedingt), ist Utopia ein absolut geeigneter Start. Sagen wir es so: Es war nicht leicht, mit Björk (und mir.) Teilweise auch anstrengend, aber das war und ist es wert. Ich freue mich schon auf das nächste Date!
Gesamtwertung: 4 von 5 Punkten.
"Utopia" von Björk ist am 24. November auf One Little Indian Records erschienen.