Platten vor die Säue
Die Nerven - Fake
Die angeblich beschissenst gelaunte Band Deutschlands vertont ihre Sinnkrise auf einem überraschend zugänglichen und facettenreichen Album.
Überall schon dagewesen? Alles schon erlebt? Gegen was rebelliert man eigentlich wenn man alles schon geschafft hat? Fragen mit denen sich die Nerven nach ihrem letzten Album Out konfrontiert sahen. Aus dem Postpunk-Geheimtipp aus Stuttgart wurden bald widerwillige Kritikerlieblinge, von Musikerveteranen Michael Gira und Thurston Moore gab es verbale Schulterklopfer und statt im kuscheligen Strom spielten die Nerven plötzlich im einschüchternden Technikum. Kaum möglich genauso weiterzumachen wie bisher. Und so zeigt das vierte Album Fake eine Band, die versucht einen Platz in der neuen Lebenswelt zu finden.
Teilneustart
Die Nerven sind zwar immer noch laut und die Nerven sind immer noch stinksauer, aber Fake unterscheidet sich doch spürbar von den hochgelobten Vorgängeralben. Auch weil sich auf der Platte keine klare Richtung einpendelt. Bei jedem Song scheint die Band eine komplett andere Vision zu verfolgen. In "Frei" zum Beispiel entlädt Max Rieger seinen gesamten angestauten Frust über das lauteste Gitarrenriff der Platte. "Neuer Sand" klingt durch Julian Knoths prägnanten Basslauf wie ein Film Noir Soundtrack mit verzerrten Gitarren und der Titeltrack "Fake" klingt ohne Kevin Kuhns Schlagzeug wie ein düsterer Albtraum und anders als alle Songs, die die Nerven jemals geschrieben haben. Schnell wir klarl, dass das Trio sich zum ersten Mal mit klar definierten Songstrukturen ins Studio begeben hat. Das Ergebnis ist ein deutlicher Unterschied zu den früheren Platten Fun und Out, die zum großen Teil wie in Albumform gepresste Jamsessions klingen. Im Vergleich dazu wirkt Fake fast schon wie ein Mixtape – da passt auch das absichtlich verpixelte Cover perfekt.
Post Punk wird zu Pop
Bemerkenswert ist auch wie sehr sich die gerne als Anti-alles Band verschriebenen Nerven plötzlich der Popmusik öffnen. Die zweite Vorabsingle "Niemals" überrascht schon mit einem unglaublich eingängigen Refrain, der fast so etwas wie Ohrwurmpotential in sich hat. Wem die Nerven bisher zu laut und kratzig waren findet hier den perfekten Einstieg. Auch "Explosionen" geht in diese Richtung: Max Rieger murmelt in seinen Text in ungewöhnlich melancholischer Stimmung, während die Instrumente sich den ganzen Song über zurückhalten, um ihm den nötigen Platz zu lassen. Eine Punkband die sich der Popmusik öffnet klingt natürlich nach vorprogrammiertem Desaster, den Nerven gelingt es aber erstaunlich gut ihre Musik zugänglicher, aber nicht belangloser werden zu lassen. So wird "Explosionen" fast zum Highlight der Platte.
Selbstfindung wird überbewertet
Fake kann den Zuhörer mit gemischten Gefühlen zurücklassen. Die neu gefundene Zugänglichkeit wird einige Hörer freuen aber möglicherweise genauso viele alte Fans irritieren. Die durchdachtere Herangehensweise beim Songwriting macht die Platte sehr abwechslungsreich aber dadurch wirkt das Album nicht - wie die Vorgänger - wie aus einem Guss. Trotzdem macht es Spaß dem Trio zuzuhören wie sie sich im Laufe der Platte immer und immer wieder neu erfinden. Fake ist ein mutiges Album einer Band geworden, die nicht mehr so ganz zu wissen scheint wo sie hinwill, aber zum Glück nicht müde wird danach zu suchen.
Gesamtbewertung: 4 von 5 Punkten.
Fake von die Nerven erscheint am 20.04. auf Glitterhouse Records