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Platten vor die Säue

Neues Album: John Grant

Autor(en): Vanessa Patrick am Donnerstag, 8. Oktober 2015
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Quelle: Bella Union

Midlife-Crisis deluxe: in "Grey Tickles, Black Pressure" schafft John Grant erneut den Grat zwischen Pathos und treibendem Elektro-Pop.

Je länger man das Cover zu „Grey Tickles, Black Pressure“ betrachtet, destostärker beschleicht einen das Gefühl, man habe es vielleicht doch mit dem Wolf im Schafspelz zu tun: Ein 47-jähriger, schelmisch grinsender Vorzeigedaddy trägt zu pastellfarbenem Hemd und Pullunder Fliege. Der Photoshop-Fokus des Covers lag offensichtlich auf den lila leuchtenden Augen des Hauptdarstellers. Das Interieur bildet eine antike Kommode, auf der zwei Eulen mit gelb leuchtenden Augen stehen. Achja, die Tapete passt natürlich zu John Grant: Pastellblaue Blümchen. Landhausstil der 30er oder 40er Jahre. Eine seltsam wirkende Kombination. Das Cover verstört.

Wie das Cover so der Inhalt

„I did not think I was the one being addressed / In haemorrhoid commercials on the TV set“ singt Grant im Albumtitelgebenden Track „Grey Tickles, Black Pressure“ und gibt mit seiner ersten Songzeile den Gesamtton der Platte an: Bittersüßer, brillianter Humor kombiniert mit starkem Songwriting. Sarkastisch singt er weiter mit seinem elegant daherkommenden Bariton über seine HIV Infektion: "I Can't believe I missed New York during the '70s / I could have gotten a head start in the world of disease". Kurz danach holt er sich ins Bewusstsein zurück, dass er es im Vergleich zu anderen ja doch ziemlich gut hat - "There are children who have cancer, and so all bets are off / 'Cause I can't compete with that". Aufgewachsen im konservativen US-Bundesstaat Colorado hatte er es als schwuler Teenager nicht leicht. Das bunte Treiben im New York der 70er Jahre hätte er wohl vorgezogen. Stattdessen lernte der bibelfeste Grant das Konzept der Liebe in den Augen von Christen. Irgendwann stellte er sich quer und komponierte pathetische Songs über seine eigene Vorstellung von Liebe.


John Grant - Grey Tickles, Black Pressure (Official Album Teaser) from PIASGermany on Vimeo.

Pathos trifft auf Elektro-Pop

Das ehemalige Mitglied der Indieband The Czars präsentiert sich auf Solopfaden sowohl stilistisch als auch lyrisch mutiger. Im Vergleich zu seinem Debüt "Queen of Denmark" wirkte Grant auf seinem Zweitlingswerk „Pale Green Ghosts“ fast schon progressiv: Er mixte Elektronik und Beats mit orchestral arrangierten Balladen. Dieses Konzept führt er auch auf der aktuellen Platte fort in Songs wie „No More Tangles“ oder „Global Warming“. Neu auf "Grey Tickles, Black Pressure" sind noisiger Rock und verzerrte Gitarren wie in „Guess How I Know“ sowie funky Discosounds wie in „Snug Slacks“ oder „Disappointing“. Für letzteren Song tat er sich mit Tracey Thorn, dem ehemaligen Mitglied von Everything But The Girl, zusammen. So vielfältig Grant daherkommt, kann man seine Lieder doch klar in zwei Kategorien einteilen: Auf der einen Seite die schnelleren, elektronischeren und beatlastigen Tracks mit sarkastischen selbstironischen Lyrics - auf der anderen Seite tragende, opulent instrumentierte Singer/Songwriter-Balladen, in denen Grants Bariton besonders hervorsticht  und besonders melancholisch und leidend wirkt.

John Grant - Disappointing feat. Tracey Thorn (Official Music Video) from Bella Union on Vimeo.

Albtraum Midlife-Crisis

Grant ist gebeutelt. Vom Leben, vom Leiden, von der Ablehnung seiner Eltern, von Anfeindungen hinsichtlich seiner Homosexualität, von seiner HIV-Diagnose. All das führte ihn in den Teufelskreislauf aus Alkohol, Drogen, Depressionen und Selbstmordgedanken. Bekennend offen geht der Singer/Songwriter mit seinen Problemen um und reflektiert auf sarkastische und selbstironische Art sein ramponiertes Leben. Mit 47 Jahren – so lässt sich aus dem Albumtitel schließen – befindet sich der polyglotte Grant in einer Midlife-Crisis: Grey Tickles ist die wörtliche Übersetzung von Midlife-Crisis aus dem Isländischen; Black Pressure die wortwörtliche Bedeutung für Albtraum aus dem Türkischen. So führt „Grey Tickles, Black Pressure“ nicht nur musikalisch das fort, was auf den Vorgängeralben begann.

"Die Liebe wird niemals vergehen"

Zugleich schimmern hier und da durchaus optimistische Textzeilen durch. Nicht auffällig, für Grants Verhältnisse allerdings fast schon eine Liebeserklärung. „I made a Voodoo doll of you / and I gave her some chicken soup“ singt er auf einem kantig daherkommenden Funk: Zuckerbrot und Peitsche für einen depressiven Freund, den er nicht nur wie eine Voodoopuppe quält, sondern danach auch noch mit Hühnersuppe wieder aufpäppelt. Den Rahmen des Albums bilden das Intro, in dem die Liebeslitanei aus der Bibel vorgelesen und zugleich von Grant auf Isländisch übersetzt wird. Das Stimmenchaos am Ende des Intros wirkt eher verwirrend. Auflösend schließt er das sakrale Konzept mit dem Outro und einem der biblischen Korintherbriefe, klar und deutlich vorgetragen von einer Kinderstimme: „Liebe ist geduldig und freundlich. Sie ist nicht verbissen, sie prahlt nicht und schaut nicht auf andere herab. […] Die Liebe wird niemals vergehen.“ Jetzt, wo Grant in der Mitte seines Lebens angekommen ist, therapiert er seine Ängste aus seiner Kindheit in Schule und Elternhaus, weil er als Homosexueller nicht akzeptiert wurde. Dass er sich nun seiner Sterblichkeit im Klaren ist, bewegte ihn dazu sich selbst zu akzeptieren und lieben zu lernen. Ein grandioses Werk zwischen Pathos und Elektro-Pop. Amen.

Gesamtbewertung Redaktion: 5 von 5 Punkten

Grey Tickles, Black Pressure von John Grant erscheint am 9. Oktober 2015 auf Bella Union.

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