Platten vor die Säue
St. Vincent - MASSEDUCTION
Mit MASSEDUCTION ist für die Artrock-Ikone St. Vincent Platte Numero 5 an der Reihe. Dabei verfällt die Queen des Noise ihrem ganz persönlichen, abstrakten Wahn.
"I can't turn off what turns me on! I hold you like a weapon! Oh, don't turn off what turns me on!", so schallt Annie Clark auf dem Titletrack ihrer fünften Platte MASSEDUCTION, während im Hintergrund Roboterchöre den Unterschied zwischen "Masseduction" und "Massdestruction" immer weiter verschwimmen lassen. Zwischen Massenverführung und Massenzerstörung existiert schließlich ein schmaler Grat, auf dem St. Vincent auf diesem neuen Album balanciert. Von Song zu Song wirkt es so, als ob die 35-jährige Musikerin ihr Gleichgewicht verliert, taumelt und fällt, sodass einer der beiden Pole an Überhand gewinnt. Zu diesem Moment kommt es jedoch nie - mit gewohnt mechanischer Prezision behält St. Vincent stets die Überhand über das Chaos, das sich abspielt.
Gefangen zwischen den Polen
"I'm just like you, girls. I'm just like you, boys" lässt eine digitale Stimme im Song "Sugarboy" verlauten. Den Raum irgendwo zwischen den Geschlechtern, das ist der Ort an dem sich Annie Clark ansiedelt, wie die offen genderfluide Künstlerin schon öfter verkündet hat. Diese Gegensätze zeigen sich auf MASSEDUCTION wie auf keinem bisherigen St. Vincent Album. "Ihr persönlichstes Album", so hat die Musikerin ihr fünftes Album im Zuge dessen Promozyklus beschrieben. Musikalisch lässt sich das in verschiedensten Balladen nieder. MASSEDUCTION ist geprägt von den bedachten Tönen, den Streichern, dem Piano, die explosiv in Gitarren- und Rhythmusfeuerwerke ausarten.
Präzise durchs Chaos
In bekannter St. Vincent-Manier flackern diese Feuerwerke in exakten, verzerrten und dissonanten Gitarrenpassagen auf, die nur vom stetigen Beat eingefangen werden können. Der Hang zur Melodie verleiht dem ganzen seine eigene Freak-Pop-Identität, was sicherlich auch durch das Mitwirken vom Starproduzenten Jack Antonoff ermöglicht wirkt. Aber es sind die ruhigen Momente, durch die sich MASSEDUCTION von seinen Vorgängern, insbesondere der letzten, selbstbetitelten Platte, absetzen kann. "Happy Birthday Johnny", eine Klavierballade über einen, von Clarks Erfolg zurückgelassenen Freund in New York, ist wahrscheinlich der intimste St. Vincent Track bis dato.
"Annie, why did you to this to me?"
Ob der namensgebende Johnny in Wirklichkeit existiert, bleibt unklar. Seine Worte in dem bereits erwähnten Song ziehen sich jedoch durch das verführerische Album. Mit den letzten zwei Alben hat St. Vincent einen solchen Erfolg in der Indieszene erreicht, dass sie bereits ins Blitzgewitter des Mainstreams gebrochen ist. Schließlich war Clark auch mit der Schauspielern Kristen Stewart und dem Model Cara Delevinge zusammen. Erfolg und Beziehungen, auch hier zeigt sich wieder der gegensätzliche Balanceakt zwischen Verführung und Zerstörung. Die Massen hat St. Vincent verführt, doch schafft sie es nicht, die eigene Beziehung vor dem Crash zu retten, wie sie im Albumopener "Hang On Me" resigniert beichtet.
Pathos & Paranoia
Die Zerstörung von Beziehungen, die Zerstörung der Psyche, die Zerstörung des Körpers - all das hat Annie Clark die letzten Jahre in Kauf genommen. Auch wenn die abstrakte Musikerin auf MASSEDUCTION nie direkt von wirklichen Episoden ihres Lebens singt, so versteht man als Hörer doch, was St. Vincent durchgemacht hat. Dabei endet das Tumult um den Erfolg von St. Vincent gegen Ende des Albums im Closer "Smoking Section", ein Song, in dem sich Clark schon symbolisch vom hier und jetzt verabschiedet. Die Angst vor der Zukunft hat das letzte St. Vincent Album geprägt, doch auf MASSEDUCTION wird sie nun vollends manifest.
Ein Drahtseilakt. So lässt sich das neue St. Vincent Album MASSEDUCTION am besten beschreiben. Ein Drahtseilakt zwischen Fiktion und Realität, zwischen Hoffnung und Verzweiflung und schlussendlich auch zwischen Leben und Tod.
Gesamtwertung: 4,5 von 5 Punkten.
MASSEDUCTION erscheint am 13. Oktober auf Loma Vista Recordings.