Herbst
Goldene Zeiten
Durch den Klimawandel verschieben sich die Jahreszeiten. Übergangsphasen wie der Herbst kommen dadurch oft zu kurz. Schade, wie ich finde. Eine Ode an den Herbst.
Nur eine Zwischenphase?
Von allen vier Jahreszeiten scheint der Herbst die einzige zu sein, der keine klare Definition zugeschrieben wird. Sommer und Winter sind für ihre extremen Temperaturwerte bekannt, der Frühling steht für das Erwachen der Natur. Wo aber bleibt der Herbst? Er scheint sich lediglich durch seinen Übergangscharakter zwischen Sommer und Winter auszuzeichnen. „Übergangsjacken“ werden aus dem Schrank gekramt, um sich allmählich auf die Winterjacke vorzubereiten. Die Wiesn ist schon lange vorbei, Weihnachten noch weit weg. Auf den ersten Blick scheint der Herbst nichts Halbes und auch nichts Ganzes zu sein. Dabei ist er für mich viel mehr als nur eine Zwischenphase, mehr als Erntezeit und Blätterfall. Er ist die goldene Jahreszeit.
Rot + Gelb = Gold
Wenn die Blätter aufgrund der Sonneneinstrahlung in kräftigen Rot- und Gelbtönen aufblühen, das Laub auf dem Boden die Welt nicht mehr von oben und unten unterscheiden lässt, dann spricht man vom „goldenen Herbst“. Dieses Phänomen ist vor allem im Oktober erkennbar, wenn die Natur unter einer Art goldenem Schleier erscheint. Strahlend blauer Himmel, klare Luft, sonnige und warme Tage, intensive und warme Laubfarben – diese Herbstperiode ist auf der ganzen Welt bekannt. In Deutschland als „Altweibersommer“, in Finnland als „ruska-aika“, in Schweden unter dem Namen „Brigitta-sommar“, in Amerika als „Indian Summer“ und in China als „Herbsttiger“. In Japan steht der Begriff „Momijigari“ („Herbstlaubjagd“) sogar für die Sitte, Landschaften und Parks mit herbstlicher Laubfärbung zu besuchen.
Die Melancholie des Herbstes
Doch trotz des kurzen goldenen Aufblühens führt der Herbst ohne mögliche Weggabelungen geradlinig auf den Winter zu. Die Tage werden kürzer, kälter und dunkler. Die Blätter färben sich, fallen ab – die Natur stirbt ihren langsamen Tod, so könnte man meinen. Hin- und hergerissen zwischen Sommer und Winter, zwischen kalten Nächten, Morgennebel und warmen Tagen, wirkt sich die schwellenartige Eigenschaft des Herbstes auch auf die Menschen aus. Frühlingsrollen weichen dem Winterspeck. Die Euphorie des Sommers macht Platz für Winter-Depressionen. Wechselstimmungen sind in dieser Jahreszeit daher nicht undenkbar. Für viele ist der Herbst deshalb die Jahreszeit der Melancholie. #Herbsttief und #Herbstmelancholie sind im Internet nicht selten zu finden und dienen zur Begründung für eine eher trübe Stimmung.
"Vom Baum des Lebens fällt Mir Blatt um Blatt..." #Herbstmelancholie #citylife pic.twitter.com/iN9su1f5ft
— carsteanca (@carsteanca) 16. September 2015
Und auch in der Literatur fungiert die Natur oft als Spiegel der Seele, besonders bekannt in Goethes Die Leiden des jungen Werthers:
„Wie die Natur sich zum Herbste neigt, wird es Herbst in mir und um mich her. Meine Blätter werden gelb und schon sind die Blätter der benachbarten Bäume abgefallen.“
Herbst ist das, was man draus macht
Wann fängt Herbst an, wo hört er auf? Die nicht ganz klare Definition des Herbstes ist für mich keine Schwäche, sondern vielmehr eine Stärke. Denn keine andere Jahreszeit ist so vielfältig wie der Herbst, so wechselhaft, überraschend, unerwartet. Der Herbst hat für mich im Gegensatz zu den anderen Jahreszeiten eine ganz besondere Intensität und Tiefe. Als Zeit des Wandels und der Umgewöhnung nimmt er in unserem Lebensjahr und auch in uns selbst eine bedeutsame Rolle ein, derer wir uns oft gar nicht bewusst sind. Es gilt also, die letzten warmen Tage und Spaziergänge im laubbedeckten Englischen Garten auszunutzen und zu genießen, bevor der Winter an die Tür klopft.