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Interview: Kerem Schamberger

Legitimer Protest?

Autor(en): Cornelia von Grafenstein , Maximilian Pichlmeier am Donnerstag, 6. Juli 2017
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Quelle: Kerem Schamberger

Linker Aktivist und Wissenschaftler: Kerem Schamberger

Der linke Aktivist und Kommunikationswissenschaftler Kerem Schamberger protestiert in Hamburg gegen die G20. M94.5 verrät er, warum.

Beim Treffen der Regierungschefs der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer sind rund 19 000 Beamte im Einsatz. Hamburg gleicht einer Festung: Versammlungsverbot, Stacheldraht und Scharfschützen. Rund 100 000 Gegendemonstranten werden erwartet - ein beachtlicher Teil stammt aus der linken Szene. Auch der Münchner Aktivist und Kommunikationswissenschaftler Kerem Schamberger reist zum Protest nach Hamburg. Ein Interview über eingeschränkte Grundrechte und die Frage nach der Legitimität des G20-Gipfels.

Kerem, Du wirst ja selber am Freitag zum Protestieren nach Hamburg fahren. Gegen was willst du denn protestieren? Was ist deine Kritik am G20-Gipfel?
Erste Kritik ist, dass diese G20-Staaten eigentlich für ein neoliberales „Weiter so“ stehen. Sie wollen also sozusagen keinen grundsätzlichen Wechsel in der Welt, sei es in Fragen von Klimagerechtigkeit, sei es in Fragen von Geflüchtetenbewegungen, sondern sie wollen eigentlich weiter so machen und sich durch die Krise hindurch manövrieren. Die zweite Kritik ist, dass es im Rahmen dieses Gipfels zu einem massiven Demokratieabbau kommt, also was wir jetzt in den letzten Tagen in Hamburg erleben, was wir schon in den letzten Wochen in Hamburg erlebt haben, ist eigentlich an Skandalösität nicht mehr zu überbieten. Die Polizei widersetzt sich gegen Anordnungen des Gerichts. Es werden Grundrechte massiv eingeschränkt. 

Inwiefern?
Zum Beispiel kam es letzte Woche zu Hausuntersuchungen von zwei wichtigen Aktivistinnen, die vor sechs Monaten ein Interview in der taz gegeben hatten. Wegen diesem Interview ist bei ihnen die Polizei mit vorgehaltener Waffe ins Haus eingelaufen. 

Die hohen Kosten sind ja auch ein typischer Kritikpunkt. Für dich auch?
Dieser Gipfel, zwei Tage, kostet bis zu 750 Millionen Euro. Es gibt keine verlässlichen Zahlen, aber mindestens 130 Millionen dieser Gelder werden von den Steuerzahlern gezahlt - für einen Gipfel der keine Legitimität hat. 

G20 hat für dich also keine Berechtigung. Warum denn? Welche Themen werden denn besprochen?
Zum Beispiel eines der wichtigsten wird die „Partnerschaft mit Afrika“ sein. Finde ich eigentlich ganz interessant. Weil als einziges afrikanisches Land nimmt Südafrika an dem G20-Gipfel teil, alle anderen Länder aus Afrika sind dort ausgeschlossen. Es wird vor allem auch besprochen, wie neue gesellschaftliche Sphären, die noch nicht durch die Kapitallogik durchdrungen sind, von dieser durchdrungen werden könnten. Es gibt sehr viel Kapital momentan auf der Welt, das irgendwie nach Anlagemöglichkeiten sucht auf der Welt, aber keine findet, die profitabel sind und deswegen wird geschaut, wo kann man privatisieren weltweit und damit noch mehr Geld machen. 

Und warum glaubst du ist der Protest dieses Jahr gar so groß oder zumindest präsent?
Ich glaube, dass der G20-Gipfel einfach der klarste Ausdruck unserer derzeitigen Herrschaftsverhältnisse ist. Viele Leute sind unzufrieden mit dem derzeitigen Gesellschaftssystem, mit den wirtschaftlichen Strukturen, mit den Kriegen weltweit, die – und das wird immer offensichtlicher – durch den Westen ausgelöst werden, man muss nur an die Waffenlieferungen zum Beispiel an Erdogan oder nach Syrien denken. Und so ein Gipfel bietet die Möglichkeit seinen Protest zum Ausdruck zu bringen.

Tatsächlich hat sich dieser Protest ja sogar schon von Hamburg nach München ausgebreitet.
Genau, am Stachus wurde dagegen demonstriert, dass Zelte auf den Camps verboten worden sind. Die Aktivisten dort haben ganz viele eigene Zelte mitgenommen, um dagegen zu protestieren. Sie haben auch sogenannte Sleep-Ins gemacht, bei denen sie sich sozusagen in die Zelte gelegt haben, um dagegen Widerstand auszudrücken. Ist natürlich eine interessante Sache, dass Sich-auf-den-Boden-legen und Schlafen mittlerweile schon ein Akt des Widerstands in diesem Kapitalismus ist. 

Dann sind wir schon beim großen Thema der Camps. Von der Protest-Seite heißt es, die Polizei soll dort ziemlich brutal und rabiat vorgegangen sein. Wenn du selber am Freitag hoch fährst, hast du da bestimmt Bekannte, oder? Was erzählen die denn so?
Was ich aus Hamburg berichten kann, was mir Bekannte und Freunde dort erzählen, ist, dass die Gewalt der Polizei wirklich erschreckend ist. Gegen kleinste Sachen wird sofort mit Pfefferspray oder mit Knüppeln vorgegangen. Die Bilder sprechen ja auch für sich, die man so in den Sozialen Medien sieht. Hier wird ganz klar eine Politik der Eskalation gefahren, um rechtfertigen zu können, warum man zum Beispiel am Samstag auf der Großdemonstration mit Gewalt dagegen vorgeht. Und das ist eben eine gezielte Politik der Eskalation, die man bloßstellen muss. 

Klar, das heißt von der einen Seite, die Polizei stellt das wieder anders dar und die ist doch eigentlich eine verlässliche Quelle. Welchen Berichten kann ich denn jetzt glauben?
Also als Kommunikationswissenschaftler kann ich nur sagen an die Menschen, die über diesen Protest und den Gipfel berichten: Vertraut der Polizei nicht, vertraut den offiziellen Stellen nicht! Also das heißt, kritische Hinterfragung dieser staatlichen Quellen ist vor allem bei solchen Großevents nötig. Vor allem bei Events, wo die Polizei eine Seite hat, also eine Position, eine Rolle einnimmt.

Im aktuellen Verfassungsschutzbericht heißt es aber doch auch, dass die linksextreme Gewalt so hoch ist wie seit fünf Jahren nicht mehr. Der Bericht warnt sogar ausdrücklich vor dem Gewaltpotenzial anlässlich des G20-Gipfels. Da heißt, es sei zu rechnen "mit einem Anstieg linksextremistisch motivierter Straf- und Gewalttaten gegen den politischen Gegner und die Polizei." 
Also für mich hat – auch aus meiner persönlichen Geschichte heraus – der Verfassungsschutz überhaupt keine Legitimität. Er nutzt diese Berichte, diese sogenannten Verfassungsschutzberichte, im Kampf gegen alles, was irgendwie fortschrittlich und links ist. Wenn man sich da zum Beispiel mal die Zahlen anschaut, wie diese links-motivierten Gewalttaten zustande kommen. Ein Großteil davon sind Akte des zivilen Ungehorsams. Zum Beispiel, wenn ich mich bei einem Nazi-Aufmarsch auf die Straße setze und sage: „Ihr kommt hier nicht vorbei!“, dann zählt das als Gewalt und die Zahl steigt weiter. Das ist ein Kampfmittel und kein objektiver Bericht. Und wenn es darum geht, die Verfassung zu schützen, dann sollte der Verfassungsschutz erst mal bei sich in seinen eigenen Reihen schauen. Da hat der Verfassungsschutz kein Auge drauf, weil er selber Teil des Problems ist und eigentlich abgeschafft gehört.

Du hast den Bericht gerade ein „Kampfmittel“ genannt. Was für ein Kampf ist das denn?
Es ist ein Kampf um die Ideen, also wer die Deutungshoheit in bestimmten Sachen hat. Wird der Protest gegen die G20 von der Mehrheit der Bevölkerung als legitim angesehen oder wird durch solche Mittel, wie den Verfassungsschutzbericht, wie diese Polizeiberichte auf Twitter – Stichwort: Türknauf steht unter Strom (gemeint ist ein Polizeitweet bei der Räumung des Szenelokals Friedel 54, Anm. d. Red.) –  der Protest versucht zu delegitimieren? Und das meine ich mit Kampf.

Also ein Interpretations-Kampf?
Genau.

 

Das Interview führte Cornelia von Grafenstein
 

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