Selbstversuch
Mit Krücken durch München
Seit drei Tagen nehme ich die Perspektive eines temporär Behinderten in der Gesellschaft ein. Spätestens in der U-Bahn merke ich, was Egoismus ist.
Der Unfall
Ich hab den nächsten Spielzug genau im Kopf. Ein Blick auf mein Roger Federer Outfit gibt mir ein Gefühl der Unbesiegbarkeit, der totalen Überlegenheit. Ich tippe den Ball, schmeiße ihn mit einer eingespielten Leichtigkeit nach oben. Durch den nötigen Kick hat mein Gegenspieler nur einen Notschlag in seinem Repertoire. Fast schon schwebend erreiche ich den Ball, der zu kurz geraten ist, rechter Fuß nach vorne und .... Höllische Schmerzen! Ich schmeiße mich auf den Platz. Ein Blick auf mein angeschwollenes Sprunggelenk holt mich auf den sandigen Boden der Tatsachen zurück. Ich bin nicht Roger Federer, sondern ein Spieler in der drittletzten Liga. Das ist nicht Paris, es ist das verregnete Erding.
Die neue Perspektive
Die Diagnose meines Hausarztes: Gerissene Bänder. Er gibt mir blaue Krücken, auf die ich die nächsten Tage angewiesen bin.
Am nächsten Tag muss ich noch Mal zum Kontrollbesuch. Auf dem Weg zur U-Bahnstation, für den ich normal keine fünf Minuten brauche, benötige ich nun die dreifache Zeit.
Über die Rolltreppe erreiche ich die U-Bahn, die ich für zehn Minuten in Anspruch nehmen muss. Die sitzenden Kunden der Bahn registrieren mich, nach zwei Sekunden geht der Blick aber sofort wieder auf das gefangene Glumanda. Keiner bietet mir einen Platz an. Dabei schreit mein ganzes Auftreten doch: „Schaut her, ich hab Krücken, ich habe Schmerzen!“ Meine Freundin nimmt meinen inneren Hilfeschrei sofort auf und wirft jedem Sitzenden einen Blick der Vernichtung zu. That’s my Girl.
Das Rolltreppengate
Am Sendlinger Tor lehrt sich die Bahn und ich bekomme für die letzten zwei Stationen noch einen Sitzplatz. Haltestelle Fraunhoferstraße. Hier wartet die zweite Herausforderung auf meine noch junge Laufbahn des Gehandicapten. Die Rolltreppe wechselt immer die Richtung, je nach Benutzung. Die Alternative wäre eine steile Treppe. Die launische Rolltreppe ist leer, ich stelle mich mit meinen blauen Krücken vor die Treppe. Jeder, der von oben kommt, kann jetzt sehen, dass ich nach oben will.
Aber! Selbst meine perfekt vorbereiteten Maßnahmen kommen nicht gegen die Egomanen der Fitnessszene an. Ein breitgebauter Typ hat Augenkontakt mit meinen Krücken und nimmt trotzdem die Rolltreppe. Ich spreche nun direkt zu dir! Ich weiß, dass du ein „Clubpumper“ bist. Du darfst deine Beine nicht trainieren. Bosstransformation und so. Aber das wäre jetzt deine Möglichkeit gewesen, ein Mal nicht nur anerkennende Blicke aufgrund deines Bizeps zu ernten, sondern auch ein ehrliches Dankeschön zu bekommen.
Ein Mob folgt ihm und ich stehe fassungslos und kopfschüttelnd seit fünf Minuten auf einem Fleck. Mit einer Attitüde des Protests nehme ich nun quälend die lange Treppe. Auf jeder Sufe hoffe ich, dieser Gang möge die Münchner umdenken lassen, sie aufrütteln.
Die Einsicht
Drei Tage sind nun seitdem vergangen. Ich kann euch sagen: diese Bewegung hat nicht die Wellen geschlagen, die meine Leistung verdient gehabt hätte. Leider.
Meine Karriere als temporär Behinderter neigt sich dem Ende, die Schmerzen werden weniger, in ein paar Tagen kann ich die Krücken weglegen. Diese Zeit hat mich eines gelehrt, nämlich, dass die Bevölkerung egoistischer ist, als ich mir das vorgestellt hätte. Ich hab zurück gedacht, in meine beschwerdefreie Zeit, mit der verzweifelten Hoffnung, dass ich jedes Mal aufgestanden bin, wenn ich alte und gehandicapte Menschen gesehen habe. Richtig überzeugt bin ich davon aber nicht.