M94.5 Filmkritik
1000 Arten von Regen
Was tut man, wenn sich der eigene Sohn dauerhaft im Zimmer einsperrt? In "1000 Arten Regen zu beschreiben" kämpft eine Familie mit dieser Situation.
Hikikomori ist ein Begriff, der aus dem Japanischen kommt und "sich einschließen" heißt. Mit ihm werden Menschen bezeichnet, die sich freiwillig komplett aus dem gesellschaftlichen Leben zurückziehen und ihre Zeit nur noch alleine in ihrem Zimmer verbringen. Oft sind Gefühle der Überforderung oder Versagensängste die Auslöser. So geschieht es auch mit Mike. An seinem achtzehnten Geburtstag steht seine Familie singend vor seiner Tür, aber diese bleibt zu. Über Wochen. Egal wie verzweifelt, wütend, traurig oder sanft die Eltern Thomas (Bjarne Mädel) und Susanne (Bibiana Beglau) oder die Schwester Miriam (Emma Bading) auf die Tür einreden, der Sohn und Bruder kommt nicht heraus und gibt nur ab und zu mit kleinen Zetteln ein Lebenszeichen von sich. Darauf stehen verschiedene Wetterbeschreibungen von Orten auf der ganzen Welt, die sich Mike nur noch im Internet ansieht. Von der echten Welt vor der Tür, wo Familie und Freunde sind, will er nichts mehr wissen.
Zwischen Wut und Verzweiflung
Unvorbereitet mit der völligen Isolierung von Mike konfrontiert, ist die Familie vor allem erstmal mit der Situation überfordert. Die große Frage des "Warum?" steht in dem kleinen Flur vor der Zimmertür des Jungen, vor der sich alle immer wieder versammeln, um Mike aus seiner Höhle zu locken. Die Mutter redet ihm gut zu und stellt ihm Essen hin. Die Schwester, die selbst in der pubertären Umbruchsphase ist und mit allem und jedem kämpft, versichert ihm, dass sie ihn verstehe. Der Vater ist ebenso besorgt, aber auch der Meinung, dass der Junge selbst rauskommen solle, wenn er hungrig sei. Doch die Tür bleibt wie eine undurchdringliche Mauer fest verschlossen. Was am Anfang vor allem noch Sorge ist, schlägt bald in Wut um. Für eine absolute Gänsehautszene sorgt dabei Bjarne Mädel, der in einem Anfall von Verzweiflung und Hilflosigkeit im Garten Mikes Spielsachen verbrennt. Aber auch Bibiana Beglau spielt stark die Mutter, die nicht begreifen kann, dass ihr Kind einfach aus der Familie verschwindet, obwohl er hinter der Tür immer noch anwesend ist.
Fokus auf die Ausgeschlossenen
Regisseurin Isa Prahl hat sich bewusst dafür entschieden, Mike in dem Film fast nicht zu zeigen. Der Zuschauer sieht ihn nur einmal kurz mit Kapuze von hinten. Statt zu sehen, was in dem Zimmer passiert, nimmt der Betrachter die Perspektive der Familie ein, wird mit auf den Flur verbannt und mit denselben Fragen konfrontiert wie sie. Die Beengung, sowohl die innere der Figuren als auch die äußere der Räumlichkeiten, wird dabei durch kluge und ungewöhnliche Kameraeinstellungen verdeutlicht. "Es war mir wichtig, keine einfache Problem-Lösungs-Konstellation zu erzählen, indem man hinter die Tür springt und den Jungen erklärt", erzählt Prahl. "Denn es geht hierbei nicht um ein einziges Problem, sondern vielmehr um einen Zustand: die Überforderung durch eine durchdigitalisierte Welt." Die Überforderung mit der Welt zeigt sich auch gut in der Teenager-Schwester Miriam, die von Emma Bading treffend verkörpert wird. Letztendlich sind die Figuren alle auf der Suche und werden durch die verschlossene Tür dazu angeregt, Entscheidungen und Lebenseinstellungen zu hinterfragen.
"1000 Arten Regen zu beschreiben" erzählt auf sensible und intensive Art vom Erwachsenwerden, vom Loslassen und von Familienstrukturen, die sich manchmal auflösen müssen, um wieder neu zusammengebaut werden zu können. Untermalt mit dem schönen Soundtrack von Volker Bertelmann und den Bildern von Kameramann Andreas Köhler, ist Isa Prahl ein sehenswerter erster Langfilm gelungen, der zum Nachdenken anregt.
"1000 Arten Regen zu beschreiben" läuft ab dem 29. März 2018 in den deutschen Kinos.