M94.5 Filmkritik
Die Schönheit der Andersartigkeit
Puppentheater für Erwachsene und damit heißer Oscar-Kandidat - "Anomalisa" vom Autor ungewöhnlicher Drehbücher: Charlie Kaufman.
Dieser Film ist zutiefst menschlich. Die Protagonisten wirken wie aus dem Leben gegriffen. Die Geschichte ist auch nicht ungewöhnlich: Ein Mann kommt in eine Stadt, um einen Vortrag zu halten, und verliebt sich in eine Frau. Was ist das besondere dabei? Es sind ausschließlich Puppen aus einem 3D-Drucker, die im Film vorkommen. Sie arbeiten, telefonieren, trinken Alkohol und zeigen Gefühle.
Liebe auf den ersten Ton
Michael Stone ist Motivationstrainer und Bestseller-Autor. Er kennt die Formel für Erfolg und Produktivität, ist Ehemann und Vater und wird von allen angehimmelt. Glücklich ist er damit aber nicht. Vielmehr scheint es, als würden ihn die Leute langweilen. Er tourt durch Amerika, um sein neuestes Buch anzupreisen, und wird in Cincinnati von der Vergangenheit eingeholt. Eigentlich erhofft er sich, hier eine alte Bekannte zu treffen. Bald bereut er seine Idee wieder. Enttäuscht begibt er sich auf sein Hotelzimmer, um kurze Zeit später von einer Stimme aus dem Schlaf gerissen zu werden.
Die Stimme gehört zu Lisa, einem Fan. Sie und ihre Freundin sind angereist, um Michael Stone reden zu hören. Stone verliebt sich sofort und beginnt eine Affäre mit der schüchternen Lisa. Sie ist so anders, dass sie sein Leben und seine Auffassung von der Welt komplett umkrempelt. Eine Anomalie bzw. Anomalisa eben.
Im Gegensatz zu Filmen wie Team America oder Nightmare Before Christmas sind die Puppen in Anomalisa sehr menschlich geformt und gekleidet. Stechen einem die Stop-Motion-Technik und die Puppen anfangs ins Auge, gewöhnt man sich schnell daran. Man ertappt sich dabei, mitzufühlen. Jeder Mensch (pardon: Puppe) hat seine Vergangenheit, seine Geschichte und seine Wunden, wird Michael Stone in seinem Vortrag sagen. Tatsächlich sind er und Lisa die besten Beispiele dafür: Sie haben Komplexe, Ängste, fühlen Lust, Wut und Trauer; und sie beide wurden verletzt.
Kann verdrießlicher schauen als jeder echte Schauspieler. Quelle: © 2015 Paramount Pictures.
Kaufmanesques Puppentheater
Das Drehbuch zu Anomalisa hat Charlie Kaufman geschrieben. Für Vergiss mein nicht (Eternal Sunshine Of The Spotless Mind) mit Jim Carrey und Kate Winslet in den Hauptrollen hat er 2005 den Oscar bekommen. Darin ging es um einen Mann, der sich mit Hilfe neuester Wissenschaft alle Erinnerungen an seine Exfreundin aus dem Gedächtnis löschen wollte. War das schon ungewöhnlich, hat Kaufmann 1999 bereits mit dem Drehbuch zu Being John Malkovich Verrücktes abgeliefert:: Betrat man eine Tür in einem bestimmten Gebäude, gelangte man in den Kopf des titelgebenden Schauspielers John Malkovich. Mit Synecdoche, New York hat sich Kaufman 2008 erstmals auch als Regisseur versucht. Bei den Kritikern kam die Tragikomödie gut an, an den Kassen floppte sie. Danach hat sich Kaufman aus Hollywood zurückgezogen.
Ursprünglich war Anomalisa ein Bühnenstück, geschrieben von Kaufman unter dem Pseudonym Francis Fregoli. Es war - wie sollte es anders sein - auch diesmal ungewöhnlich. Es beinhaltete nur 3 Schauspieler: David Thewlis, Jennifer Jason Leigh und Tom Noonan (diese drei stellen letzendlich auch den Original-Cast in dem Animationsfilm Anomalisa dar). Es handelte sich um ein so genanntes "sound play", bei dem sich Geräusche bzw. Gesagtes nicht mit Gespieltem deckt. Um das Stück auf die Leinwand zu bringen, hat sich Kaufman mit dem Animationsfilmer Duke Johnson zusammengetan. Schnell waren sie sich einig den Film ohne eine Hollywood-Produktionsfirma zu verwirklichen, um ihrer Vision auch gerecht zu werden. Finanziert wurde Anomalisa über Crowdfunding. Innerhalb kürzester Zeit wurden über 400,000 US-Dollar gesammelt.
Michael und Lisa in den Unweiten des Hotels. Quelle: © 2015 Paramount Pictures.
Psychoanalyse für Dummies
Wirft man einen genauen Blick auf die Drehbücher Kaufmans, so ist ihnen allen eines gemeinsam: Die menschliche Psyche steht im Vordergrund. Es sind keine fantastischen Welten, keine Heldengeschichten, keine Gewalt. Stattdessen findet die Handlung im Inneren statt. Dialoge und Handlungen sind dafür nur Mittel zum Zweck. Anomalisa geht der Frage nach: "Wer sind wir und wie definieren wir unsere Welt?" Frei nach Paul Watzlawicks "Wie wirklich ist die Wirklichkeit?" hinterfragt der Protagonist Michael Stone sein Leben; das Leben aller anderen. Exisitieren die "anderen" überhaupt? Sind sie Konstrukte der eigenen Fantasie? Was, wenn alles nur ein Traum ist? Woran klammert man sich, was hat noch Wert?
Für Stone wird Lisa zum Realitätsanker und seinem persönlichen Zauberer von Oz: Sie enthüllt ihm, dass vieles nicht so ist, wie es scheint. Gleichsam hält der Film seinen Zuschauern einen Spiegel vor. Was er auf der Leinwand sieht, ist nicht real. Puppen mit verschieden geschnitzen Gesichtszügen entlocken dem Kinobesucher Gefühle. Eigentlich ist da nichts, und es macht so viel mit einem. Wie echt sind dann überhaupt noch Emotionen, wenn sie gezielt freigesetzt werden können? Anomalisa ist kein typischer Hollywood-Film. Es gibt kein Feuerwerk am Ende, kein klassisches Happy-End. Anomalisa ist Unterhaltung, aber auch Gehirnjogging. Wer ohne Nachdenken aus dem Film geht, hat ihn noch weniger verstanden, als der, der es verstehen möchte.
"Anomalisa" läuft ab dem 21. Januar 2016 in den deutschen Kinos.