Navid Kermanis philosophische Analyse von Neil Young
Die von Neil Young Getöteten
Navid Kermanis philosophische Analyse von Neil Young
Navid Kermanis philosophische Analyse von Neil Young
Etwa eine Woche nach ihrer Geburt setzen bei Navid Kermanis Tochter schreckliche Bauchkrämpfe ein: Die Drei-Monats-Koliken*. Das Baby kann nicht aufhören zu Schreien und sich zu Winden – ein Alptraum für die frischen Eltern.
Doch zum Glück findet Navid Kermani eine Lösung:
Ich stand mit meiner Tochter in der Mitte meines Arbeitszimmers, als mir am vierten Blähungsabend die Idee kam, Musik zu hören; vielleicht würde es sie ablenken, überlegte ich, ohne der Hoffnung viel abzugewinnen. […] Einem Impuls folgend, entschied ich mich für Neil Youngs 'Last Trip to Tulsa', das letzte Stück seiner ersten Solo-Platte: eine schier endlose Wiederholung der immer gleichen, von sekundenlangen Pausen unterbrochenen Akkorde zu einem grandiosen Text, den ich bis heute nicht verstanden habe.
Und tatsächlich: Das Baby hört auf zu weinen und bleibt ruhig bis die Krämpfe ein Ende finden.
Zwischen grandioser Tiefgründigkeit und langatmiger Inhaltsarmut
Als Leser erwartet man anschließend eine philosophische Auseinandersetzung mit der außergewöhnliche Wirkung auf Kermanis Nachwuchs. Zwar findet man einige Stellen darüber, im Großen und Ganzen aber, ist „das Buch der von Neil Young getöteten“ nur eine Musikanalyse, wie man sie in Deutsch bei Gedichtanalysen vorfindet:
"Aurora Borealis
The icy sky at night
Paddles cut the water
In a long and hurried flight
From the white man to the fields of green
And the homeland we’ve never seen"Ich gebe zu, daß Adorno, der ohnehin diese Art von Musik verabscheute, wohl kaum je einen „Versuch, Pocahontas zu verstehen“, unternommen hätte. Aber nun gut, es handelt sich ja auch nicht um Weltliteratur, sondern um einen Rocksong, nicht um klassische Neue Musik, sondern um neue Volksmusik. Und das Bild, das Neil Young mit fünf Pinselstrichen von den Indianern zeichnet, die unter dem Nordlicht („Aurora Borealis“) in ihren Kanus vor dem Weißen fliehen, und der sechste Strich, der das Untergegangene ins Utopische wendet, das ist schon fabelhaft, es ist zugleich einfach, präzise und plastisch. Das Weinerliche der Stimme treibt die Schwermut des Textes auf die Spitze, während das Stück gleichzeitig durch das Leiernde seiner Melodie abgehalten wird, in die reine Betrübnis zu schlittern.
Jetzt könnte man sich natürlich über dieses „nur“ streiten. Einige Leser – vor allem diejenigen, die wie Navid Kermani mit Neil Young aufgewachsen sind – werden begeistert sein und sich mit dem Autor auf einer gewissen Art und Weise verbunden fühlen. Wer nicht zu den blutigen Young-Liebhabern zählt, wird da anderer Meinung sein. Zwar sind – vor allem gegen Ende – viele philosophische und tiefgründige Beobachtungen Kermanis zu finden, die einen nach Abschluss der Lektüre zum Nachdenken anregen, aber trotzdem kann einem das Buch an einigen Stellen sehr langatmig und handlungsleer vorkommen.
Metaphorisch-philosophische Wortvielfalt
Diese Beobachtungen ändern jedoch nichts an Navid Kermanis Schreibstil, denn dieser ist und bleibt ein Kunstwerk für sich. Jedes Wort und jeder Satz, egal wie lang oder wirr, ist einfach wunderschön. Eine Metapher wird gejagt von einer rhetorischen Frage, die sich ganz nah an viele philosophische, sehr tiefgründige Gedanken schmiegt. Da ist eine Fülle wohlklingender Ideen, die noch lange im Kopf nachhallen.