DOK.Fest 2018
Doku pur
12 Tage, 154 Filme: Wie jedes Jahr hat das Doku-Fieber München erwischt, und wir bieten euch unseren persönlichen Guide durchs Programm.
Für knapp zwei Wochen hat das DOK.Fest die Stadt im Griff, unter dem Motto "Ganz großes Kino" gibt es Dokus aus aller Welt, so weit das Auge reicht. Damit diese Auswahl nicht zu überwältigend wird, haben wir euch vorab schon mal ein paar Highlights raus gepickt, um eure Planung zu erleichtern: Jeder dieser Favoriten ist den Kinobesuch wert. Versprochen.
20th Circuit Suspects (DOK.Horizonte - Iran)
Auf dem Rücksitz eines verdreckten kleinen Peugeots sitzt der Filmemacher Hesam Eslami. Eingeklemmt zwischen fünf halbstarken Jungs, die gerade ein Auto aufgebrochen haben. Sein eigenes Auto vergisst Hesam Eslami schnell, stattdessen wird er zum stillen Mitwisser. Er hält seine kleine Handkamera drauf, wenn Ehsan und die Jungs Scheiben einschlagen, sich mit Verkehrsschildern verprügeln, aber auch gegenseitig die Haare stylen und weinen, wenn sie mit ihren Brüdern im Knast telefonieren. Immer an ihrer Seite, verfolgt Hesan ihren scheinbar nicht zu durchbrechenden Kreislauf von Verhaftung, rauskommen und wieder einfahren.
Die große Leistung des Films: er verurteilt die jungen Männer nicht, die Kamera ist einfach nur dicht dran. Der Zuschauer fühlt sich neben den Jungs auf dem Rücksitz, betet, dass die Polizei sie nicht erwischt – und ist erschüttert, dass Hesam Eslami letztlich den Kontakt abbricht, weil er Ehsan für einen hoffnungslosen Fall hält.
Jahre später meldet sich der erwachsene Ehsan bei Hesam Eslami, gereift und mit positivem Blick in die Zukunft. sf
"20th Circuit Suspects" ist viermal auf dem DOK.Fest München 2018 zu sehen.
100 Jahre Bauhaus (DOK.special - Deutschland)
Gerade Linien, schlichtes Design, hohe Funktionalität: Die Architekturbewegung Bauhaus steht für neue Möglichkeiten und für Innovation. Der Film “Vom Bauen der Zukunft - 100 Jahre Bauhaus” will zum Geburtstag des Bauhaus zeigen, wie zeitlos und aktuell seine Ideen immer noch sind.
Etwas langatmig, aber durchaus schön erzählt, rekonstruiert der Dokumentarfilm die Geschichte der Designschule. Dazwischen begleiten wir die unterschiedlichsten Projekte, die heute noch die Ideen des Bauhaus verkörpern: von “Tiny Houses” über einen modernen Kindergarten und Tanzchoreografien bis hin zu einem Bauprojekt in den südamerikanischen Favelas. Dabei springt der FIlm regelrecht von Idee zu Idee und versucht mit allen Mitteln, jeden einzelnen Aspekt von Bauhaus irgendwie noch in den FIlm zu packen. Das ist schade, denn so bleibt nie genug Zeit, um sich genauer mit ihnen zu beschäftigen. Die Regisseure wollen einfach zu viel. vs
"100 Jahre Bauhaus" ist zweimal auf dem DOK.Fest München 2018 zu sehen.
The Distant Barking of Dogs (DOK.international - Dänemark)
Hnutove ist eine kleine Siedlung in der Ostukraine. Sie liegt ganz in der Nähe der Front, wo sich prorussische Separatisten und ukrainische Truppen seit 2014 bekämpfen. Hier wohnt der zehnjährige Oleg mit seiner Großmutter. Seine Mutter ist gestorben, ein Vater wird nie erwähnt. Regisseur Simon Lereng Wilmont begleitet den Jungen in seinem Alltag, der von ständigen Schießereien, Explosionen und Angst geprägt ist. In der Schule wird Evakuierung geübt, daheim richtet die Großmutter Betten im Keller zurecht, wo sie mit ihrem Enkel ausharrt, bis die Schüsse aufhören. Doch das tun sie fast nie. Sie sind ein ständiges Hintergrundgeräusch, das den ganzen Film über da ist. Es ist da, wenn Oleg mit seinem Cousin Yarik draußen spielt, wenn sie im Fluss baden, wenn sie zu Abend essen. Die Furcht, die sich auf den Gesichtern der kleinen Jungen abzeichnet, wenn wieder etwas explodiert, ist bedrückend.
Die Anspannung überträgt sich auf den Zuschauer. Das Gefühl, unmittelbar dabei zu sein, wird auch durch die vielen Close-Ups erzeugt, die Regisseur Wilmont einsetzt, um die Emotionen der Kinder, aber auch die der Großmutter zu zeigen. Aber auch andere Aufnahmen, die Granaten zeigen, die wie tödliche Leuchtkugeln durch die Nacht fliegen, tragen dazu bei. Doch Weggehen ist für die Großmutter keine Option, auch wenn sich die ständige Angst, die sie vor ihren Enkeln verbirgt, auf ihre Gesundheit auswirkt. "The Distant Barking of Dogs" zeigt auf eindrückliche und beklemmende Weise, was es heißt, während eines Krieges aufzuwachsen. Zusammen mit gut gewählter Musik und behutsamer Kameraführung entsteht ein intensiver und berührender Film, den man sich anschauen sollte. jr
"The Distant Barking of Dogs" ist viermal auf dem DOK.Fest München 2018 zu sehen.
The End of Fear (DOK.Panorama - Frankreich/Niederlande)
“The End of Fear” ist ein Kriminalfall, die Aufklärung eines Mordes, die Rekonstruktion. Das Opfer, das 1986 im Amsterdamer Stedelijk Museum zerstochen wurde, ist aber kein Mensch, sondern ein Gemälde. 224 auf 544 Zentimeter flächig bemalte rote Leinwand; links ein blauer Streifen, rechts ein gelber.
Der Dokumentarfilm von Barbara Visser will tief eintauchen hinter die Faszination, die das berühmte Bild mit sich bringt. Was ist das Besondere an Barnett Newmans Kunstwerk? Und lässt es sich wieder herstellen? Nachdem der Versuch einer Restoration in der Vergangenheit skandalös gescheitert ist, begleitet der Film die Künstlerin Renske van Enckevort beim Versuch einer kompletten Rekonstruktion. Dabei stellt “The End of Fear” genau die richtigen Fragen, nicht nur zu Newmans Werk, sondern auch zur Kunst allgemein.
Warum wir Angst haben vor Rot, Gelb und Blau, und was Kunst wert ist: auf dieser Sinn-Suche bringen uns die vielen Meinungen der Kunstexperten leider auch nicht weiter: Sie betonen hauptsächlich, was für ein unglaubliches Kunstwerk das Bild ist — ein regelrechtes Loblied. Es sind die Bilder des Films selbst, die “The End of Fear” dennoch zu etwas Besonderem machen. Die Ästhetik und Ausdrucksstärke, die Kunst haben kann, wird hier wirkungsvoll auf die (Kino-)Leinwand gebracht. Musik und Bild haben etwas Avantgardistisches und ziehen auch skeptische Betrachter letztendlich in den Bann. vs
"The End of Fear" ist dreimal auf dem DOK.Fest München 2018 zu sehen.
Germania (Münchner Premieren - Deutschland)
Wo es Universitäten gibt, da gibt es oft auch Studenten-Verbindungen. Und die haben oft ihre ganz eigenen Traditionen. So auch die schlägernde Verbindung Corps Germania in München, mit der sich Lion Bischof in seiner Dokumentation „Germania“ auseinandersetzt. Er begleitet die Studenten zu ihren wöchentlichen Sitzungen, ihren gemeinsamen Reisen zu anderen Verbindungen oder während ihrer Einführung von neuen Verbindungsmitgliedern, den sogenannten Füchsen.
Durch den Wechsel von Einzelinterviews und Aufnahmen in der Gruppe schafft es der Regisseur, die oftmals befremdliche Gruppendynamik herauszustellen. Besonders ist aber vor allem, dass er es schafft, einen sehr intimen Einblick in die Verbindung und ihre eher gewöhnungsbedürftigen Rituale zu bekommen. Auch wenn die jungen Mitglieder von Corps Germania wie jeder andere Student nach einem geeigneten Lebensmodell suchen, vergisst Lion Bischof nicht, die kritischen Dynamiken in dieser von Hierarchie beherrschten Gruppe offenzulegen. nm
"Germania" ist zweimal auf dem DOK.Fest München 2018 zu sehen.
I Am Another You (DOK.guest - USA)
Als die Regisseurin Nanfu Wang durch verschiedene Städte der nordamerikanischen Ostküste reist, lernt sie Dylan Olsen kennen. Dylan ist in ihren Augen ein ganz anderer Mensch, jemand mit einer ganz anderen Sicht auf das Leben. Und das zeigt sie in ihrer eindrucksvoll gedrehten Dokumentation über das Leben des 22-Jährigen, der seit einem Jahr auf der Straße lebt. Sie entscheidet sich, ihn zu begleiten, und wundert sich, genau wie viele andere Menschen, über Dylans Lebensweg.
Nanfu Wang schafft es durch persönliches Kommentieren der Handlung, viele Fragen zu stellen, die auch den Zuschauer interessieren. Dabei bleibt vor allem die Menschlichkeit erhalten und so streiten sich die beiden sehr verschiedenen Freiheitssucher irgendwann so stark, dass sie sich trennen. So nimmt die Dokumentation unerwartete Wendungen. Ist Dylan wirklich freiwillig auf der Straße? Dieser Frage geht Nanfu Wang nach, der schöne und traurige Höhepunkt wird mit der Hochzeit von Dylans Vater erreicht. Denn Dylan kommt zwar nach Hause, versteht sich aber nicht wirklich mit seiner Familie. Er verlässt seine Heimat wieder und begibt sich zu seiner wahren Familie – anderen Menschen mit den gleichen Erfahrungen wie er und Drogen, Halluzinationen, Paranoia. Mit seiner gefühlvollen Erzählweise wird "I Am Another You" nicht langweilig – nur teilweise unangenehm anzuschauen. jr
"I Am Another You" ist dreimal auf dem DOK.Fest München 2018 zu sehen.
Land of the Free (DOK.guest - Dänemark/Finnland)
Nach 24 Jahren Gefängnis endlich frei? Von wegen: Die wahre Herausforderung liegt nicht hinter Gittern, sondern sobald Brian diese hinter sich gelassen hat. "Land of the Free" zeigt eindrücklich, was es heißt, zu einem Leben zurückzukehren, das nicht mehr existiert. E-Mails? Noch nie gehört. Job? Mit krimineller Vorgeschichte doch nicht. Dabei setzt Regisseurin Camilla Magid weniger auf das Anprangern systemischer Missstände in Amerika (wie etwa die Oscar-nominierte Netflix-Doku "13th"), sondern auf drei Einzelschicksale, die berühren. Es sind individuelle Entscheidungen, die ihren Weg durch das US-amerikanische Gefängnissystem prägen, doch im Hintergrund fehlen adäquate Rehabilitationsprogramme. Statt staatlicher Hilfen sind es die regelmäßigen Treffen in der Kirchengemeinde, die die Protagonisten aufrecht erhalten.
Über zwei Jahre begleitet der Film Mörder genauso wie Drogendealer, Täter wie ihre Familien. Ihre Aussagen stehen für sich allein, auch wenn der Zuschauer manchmal nicht umhin kommt, sich zu fragen, ob diese philosophische Aussage oder jene Erziehungsmaßnahme der Mutter ohne Beisein der Kamera genauso zustande gekommen wäre. Am lebhaftesten bleiben ohnehin die Bemerkungen der Kinder in Erinnerung, die ohne Vater aufwachsen und für ein paar Jahre Knast auch noch von der Mutter verlassen werden. Kinder wie diese haben nichts mit dem "Land of the Free" zu tun, sondern sind überall zu finden, wo es Gefängnisse gibt. nc
"Land of the Free" ist dreimal auf dem DOK.Fest München 2018 zu sehen.
Der Motivationstrainer (DOK.panorama - Deutschland)
Jürgen Holler, der wohl bekannteste Motivationstrainer Deutschlands, pusht in seinen Seminaren die Teilnehmer so weit, dass diese am Ende sogar überzeugt davon sind, über glühende Kohlen laufen zu können. Und dann als Abschluss des Seminars auch müssen. Was sich erstmal - mehr oder weniger - nach Spaß anhört, stellt sich aber als ziemlich teures Vergnügen heraus: Zutritt zum Seminar gibt's für läppische 1400,-€ pro Person.
Die Regisseure Julian Amershi und Martin Rieck haben Jürgen Höller und seine Firma eineinhalb Jahre mit der Kamera begleitet und fangen Momente mit dem Trainer und seinem Team ein, die einen überraschend ehrlichen Blick hinter die Kulissen des Geschehens bieten. Nachdem Jürgen Höller wegen vorsätzlichem Bankrott im Gefängnis saß, hat er sich nun erneut ein Millionengeschäft aufgebaut. Der Dokufilm zeichnet sowohl die Vorbereitung von Höller vor seinen Shows auf als auch Reaktionen der Zuschauer. Sowohl positive als auch negative.
Vor allem diese Ausgewogenheit von Meinungen macht „Der Motivationstrainer“ erfrischend und neutral, obwohl der stets übermotivierte Trainer Höller auch viel Unterhaltungswert bietet. Dennoch ist zu bewundern, aber gleichzeitig auch kritisch zu betrachten, mit welcher Leichtigkeit man Menschen Geld aus der Tasche ziehen kann, solang nur das Charisma stimmt. ah
"Der Motivationstrainer" ist dreimal auf dem DOK.Fest München 2018 zu sehen.
Over the Limit (DOK.international - Finnland/Polen)
Margarita Mamum betritt die Halle, sie trägt ein weißes Turnoutfit, auf dem Ärmel das russische Wappen. In ihrer Hand trägt sie einen Hulahoopreifen. Als die Musik einsetzt, beginnt Rita, mit dem Reifen zu zaubern. Sie wirft ihn mehrere Meter hoch, fängt ihn, dreht ihn, verrenkt sich durch den Reifen. Was federleicht aussieht, ist Resultat harter Arbeit.
In "Over the Limit" begleitet Regisseurin Marta Prus die damals 20-jährige Rita im Jahr vor den Olympischen Spielen. Wer also einen harten Trainingsalltag erwartet, wird nicht nur bestätigt, sondern geschockt. Mit unglaublicher Härte, Kälte und Emotionslosigkeit wird die russische Gymnastikturnerin zu Höchstleistungen getrimmt.
Der Film glänzt dabei durch die sehr ruhigen und starken Bilder. Es gibt keinen Erzähler. Wie in einem Feature werden einzelne Szenen aneinandergereiht. Dadurch entwickeln die Bilder eine enorme Stärke. Der Zuschauer sitzt da und verfolgt gebannt die Trainingssequenzen, aber auch die ganz privaten Momente. Zeitweise wirkt es so, als würde die 20-Jährige überhaupt keinen Spaß an ihrem Beruf haben, als würde sie an ihrem großen Traum zerbrechen.
Der Film zeigt unbeschönigt die Härte in einem russischen Trainingslager; die Selbstzweifel der Athletin, die im Fernsehen als der große Star der Sportart gefeiert wird. Das ist auch die größte Leistung des Films: Er zeigt genau diese Schwäche, die die Sportlerin nicht zeigen darf. ma
"Over the Limit" ist viermal auf dem DOK.Fest München 2018 zu sehen.
What Walaa Wants (DOK.female - Kanada/Dänemark)
Aufgewachsen in einem Flüchtlingscamp im Westjordanland, während die Mutter acht Jahre im Gefängnis sitzt: Die rebellische und sturköpfige Jugendliche Walaa hat es von Anfang an nicht leicht. Trotzdem möchte sie als eins der wenigen Mädchen Polizistin für die palästinensischen Sicherheitskräfte werden. Unterstützung von ihrer Familie bekommt sie dabei nicht wirklich.
Christy Garland begleitet das junge Mädchen in ihrem Film „What Walaa wants“ auf ihrer Reise zum Erwachsenwerden und bis auf die Polizeiakademie. Mit gekonnten Momentaufnahmen und ganz ohne Interviews schafft es die Regisseurin, die Verzweiflung von Walaa einzufangen, wenn sie mal wieder an ihre Grenzen in der Polizeiakademie stößt oder sich nach mehr Zuneigung von ihrer Familie sehnt. Die Dokumentation „What Walaa Wants“ zeigt dabei aber nicht nur das Leben von Walaa, sondern das Leben in einer zerrütteten Gesellschaft. nm
"What Walaa Wants" ist dreimal auf dem DOK.Fest München 2018 zu sehen.