Filmfest 2017
Eine handvoll Juwelen
Mit ganz viel harter Arbeit und Popcorn ohne Ende haben wir aus 9 Tagen Kino-Marathon die schönsten Filme für euch raus gefiltert.
Keine Frage, bei über 180 Beiträgen aus aller Welt und Kino von früh bis spät kann nicht jeder Film ein Highlight sein. Tapfer wie wir sind, haben wir uns dem monumentalen Programm des Filmfests gestellt und unsere persönlichen Highlights aus diesem Jahr für euch zusammengefasst. Denn das Festival mag jetzt zwar vorbei sein, aber: Die Filmfest-Juwelen von gestern sind die Kino-Erfolge von morgen. Deshalb hier der Rückblick auf das, was uns im Kino bald erwartet.
Blind & Hässlich (Deutschland 2017)
Ferdi hat ein Problem: Er ist hässlich. Dabei möchte er doch nichts lieber als eine Freundin, einen Menschen, der ihn so mag, wie er ist, und einfach bei ihm sein möchte. Dann trifft er Jona – eine Blinde. Seine Suche scheint ein Ende zu haben, denn Jona hat den logischen Vorteil, dass sie ihn nicht sehen kann. Schnell verlieben sich die beiden und Ferdi versucht, seine Angst vor Nähe für Jona zu bekämpfen. Es gibt jedoch ein Problem: Jona ist gar nicht blind. Sie tut nur so, um billig in einem Haus für Blinde wohnen zu können, nachdem sie ihr Abi hingeschmissen hat. Chaos ist somit vorprogrammiert.
Tom Lass spielt nicht nur die Hauptrolle des Ferdi, sondern hat auch Regie geführt. Das hilft dem Film, denn so kann er seine Rolle genau so umsetzen, wie er sie sich vorstellt. Und das klappt gut, sogar sehr gut. Zunächst ist der Zuschauer überfordert und wundert sich, was das für ein Film sein soll, mit kleinen Cuts inmitten einer Szene. Doch wird Fahrt aufgenommen und von Minute zu Minute wird der Streifen besser und besser. Eine absolute Überraschung des Filmfests, bei der man an vielen Stellen stark lachen muss, aber auch mit den Problemen der Charaktere mitfühlt und sich in ihre Lage versetzen kann. Definitiv ein Film, der jeden Geschmack trifft, denn hier hat man eine Komödie, ein Drama und einen Liebesfilm in einem. jr
"Blind & Hässlich" wurde auf dem Filmfest München von der FIPRESCI-Jury ausgezeichnet und soll noch 2017 ins Kino kommen.
Es war einmal (Vereinigtes Königreich 2016)
Roald Dahl ist ein Autor, der nicht nur fantastische Kindergeschichten schreibt, er erschafft ganze Welten mit seinen Worten. Dann läuft man plötzlich durch Willy Wonkas Schokoladenfabrik oder gräbt sich mit Mr. Fox durch seinen Fuchsbau. Eigentlich beherrscht er die Kunst, gute Geschichten zu erzählen, so gut wie einst die Gebrüder Grimm. Wie passend, dass Dahl die alten Märchen entstaubt und sie in Lyrik Form neu erzählt hat. Da treffen die 7 Zwerge die drei kleinen Schweinchen und alles ist moderner und lustiger als in den altbekannten Erzählungen. Der Animationsfilm "Es war einmal... nach Roald Dahl" (im Original "Revolting Rhymes") ist eine Verfilmung von Dahls innovativen Märchen, die den Worten des Schriftstellers gerecht werden. Liebevoll und detailreich, märchenhaft und aus der Sicht vom bösen Wolf erzählt. Der ist gar nicht mehr so böse und Rotkäppchen dafür auch nicht mehr ganz so lieb und brav. Ein modernes Märchen für Kinder, das in die heutige Zeit passt und vermittelt, dass die Welt nicht nur schwarz und weiß ist. Auch für ältere Menschen sehenswert, die in einer Stunde mal wieder ganz in eine andere Welt eintauchen wollen. mk
"Es war einmal... nach Roald Dahl" erhielt den Publikumspreis des Kinderfilmfests.
Gifted (USA 2016)
Mary ist ein 7-jähriges Wunderkind. In der ersten Klasse ist sie direkt unterfordert und lässt ihre Langeweile an ihrer Lehrerin und Klassenkameraden aus. Am liebsten würde sie den ganzen Tag Matherätsel lösen und mit ihrem Onkel Frank und ihrer einäugigen Katze Fred abhängen. Doch dann holt sie das Leben ein – ihre Großmutter will sie verwenden, um die schwersten Mathegleichungen der Welt nachzuweisen, da Mary’s Mutter sich das Leben nahm, bevor diese es tun konnte. Deswegen fordert sie das Sorgerecht für ihre Enkelin und ein Rechtsstreit entsteht. Dabei interessiert es die Erwachsenen nicht, was Mary selber will.
Mit ganz viel Herz und Witz erzählt Marc Webb („The Amazing Spiderman“) die Geschichte eines außergewöhnlichen Mädchens in einer Welt voller egoistischer Menschen. Dabei fühlt jeder Zuschauer mit der süßen Mckenna Grace in der Hauptrolle mit, ihre schauspielerische Leistung überzeugt auf ganzer Linie. Chris Evans sorgt für die entsprechende Portion Hollywood, und auch wenn er mal nicht Captain America ist, spielt er einen liebenswerten Vaterersatz für seine kleine und mit dem Leben überforderte Nichte. Achtung: möglicherweise muss man gegen Ende ein Tränchen verdrücken, was bei der Art des Films aber nur positiv zu verstehen ist. jr
"Gifted" ("Begabt - Die Gleichung eines Lebens") kommt am 13. Juli 2017 in die deutschen Kinos.
Hotel Salvation (Indien 2016)
Seit ein paar Jahren hält das indische Kino auf dem Filmfest zuverlässig Geheimtipps bereit, sei es die geduldige Poesie von "Labour of Love" oder die knallharte Bürokratie von "Court". Diese unaufgeregte Art der Alltagsbeobachtung erzählt Geschichten, die für den westlichen Kinogänger genauso exotisch wie universell sind - dieses Jahr in Form von "Hotel Salvation". Auf der Oberfläche geht es um Riten und Traditionen, die für uns vorerst schwer nachvollziehbar sein mögen: Mit 77 ist sich Dayanand sicher, seine Zeit ist gekommen, bald wird er sterben. Um sich Erlösung zu sichern, bricht er auf zum Pilgerort Varanasi, wo er maximal 15 Tage im gut besuchten Hotel Salvation bleiben darf. Innerhalb dieses Zeitraums soll er also sterben.
Der Kern der Geschichte liegt aber nicht in dieser vorerst befremdlichen Situation, sondern in Dayanands Beziehung zu seinem Sohn Rajiv, vielbeschäftigter Familienvater und Arbeitstier, der sich nur widerwillig vom Bürojob losreißt, um seinen Vater auf seiner Reise zu begleiten. Nach und nach wird ihre distanzierte Beziehung ergründet und erwärmt, und das in so behutsamen, nachvollziehbaren Etappen, dass zum Ende des Films auch mal ein paar Tränchen fließen. Der Film ist rührend, ohne in irgendeiner Form kitschig zu werden, behandelt große Universalthemen wie Familie, Erbe, Tradition und Tod, und verliert trotz alledem nicht seine Komik und Selbstironie. Ein durchweg schönes Kinoerlebnis. nc
"Hotel Salvation" (im Original "Mukti Bhawan") soll noch 2017 in die deutschen Kinos kommen.
Hounds of Love (Australien 2016)
Es ist Abend. Eine junge Frau ist aufgestylt auf dem Weg zu einer Party. Plötzlich hält ein Auto neben ihr und ein Ehepaar lockt das Mädchen zu sich nach Hause, betäubt sie und sperrt sie ein. „Hounds of Love“ ist eine Geschichte von einem Serienmörder-Ehepaar im Australien der 80er Jahre. Die Handlung und Thematik sind nichts Neues auf der Kinoleinwand, Psychothriller wie diese gibt es viele. Und doch hebt sich dieser Streifen ein wenig ab. Denn obwohl die Handlung komplett vorhersehbar ist und so keinerlei Überraschungen bereithält, schafft es Regisseur Ben Young durch hervorragende Musik, eine eindrucksvolle Kameraführung und die schonungslose Darstellung vieler Gewaltszenen, einen klaren Spannungsbogen aufzubauen. Vor allem die Musik zieht den Zuschauer förmlich in die Szenerie einer australischen Vorstadt und in das Gefängnis des Mädchens. Auch die Geräuschkulisse unterstützt den Film immens, denn die Schreie der jungen Frau gehen, auch dank technischer Tricks, durch Mark und Bein und schaffen es auf diese Weise, dass der Zuschauer sich auf seinem Sessel zusammenkauert und mitleidet.
Doch nicht nur die Grausamkeit des Geschehens macht „Hounds of Love“ aus, auch die Dynamik des Ehepaares ist interessant und trägt den Film streckenweise. So ist ein Einblick in die psychologische Welt von Serienkiller-Ehepaaren möglich, eine Welt, in der es oft einen starken und einen schwachen Part gibt; der eine den Ton angibt und der andere, meist aus Liebe, folgt. Trotz seiner klassischen und vorhersehbaren Handlung wird der Psychothriller „Hounds of Love“ durch seine Erzählweise und seine Musik zu einem Highlight und ist es absolut wert, gesehen zu werden. ah
"Hounds of Love" wird voraussichtlich im Herbst 2017 in die deutschen Kinos kommen. Unsere komplette Kritik lest ihr hier.
I still hide to smoke (Algerien, Frankreich, Griechenland 2016)
Algerien 1995 während der années noires. Fatima leitet ein Hammam in der Hauptstadt Algier. Die Badeanstalt ist einer der wenigen Orte, an dem Frauen frei von jeglichen Zwängen, sei es durch die Religion, durch ihre Ehemänner oder ihre Väter und Brüder, zusammenkommen können. Regisseurin Rayhana lässt neun Frauen unterschiedlichsten Alters und Hintergrunds aufeinandertreffen und sich austauschen. Über schreiende Kinder, Anschläge, Zwangsheirat und Intimrasur. Die Kamera lässt den Zuschauer diesem Ort ganz nah kommen, hautnah im wahrsten Sinne des Wortes, denn im Hammam herrscht unbekümmerte Freizügigkeit. Ein Umstand, der Rayhana dazu veranlasst hat, ausschließlich mit weiblichen Mitarbeitern zu drehen: „Damit sich alle wohlfühlen.“ Außerdem hat sie bewusst Schauspielerinnen ausgewählt, die keinem übertriebenen Schönheitsideal entsprechen: „Ich wollte ganz normale Frauen zeigen, keine Mannequins.“ Auch deshalb wirkt der Film so authentisch.
Die kleine Parallelwelt, in der man sich gegenseitig den Rücken schrubbt und geheime Wünsche erzählt, wird bald jedoch von dem Bruder eines jungen, hochschwangeren Mädchens, das sich vor seinen Morddrohungen ins Hammam geflüchtet hat, bedroht und die Handlung bekommt eine beklemmende Wendung. Besonders sehenswert ist Hiam Abbass in der Rolle der ruppigen und mutigen Fatima. Ein spannender Film, der Einblicke in eine ganz neue Welt gibt. Empfehlenswert. jr
"I Still Hide to Smoke" (im Original "À mon âge je me cache encore pour fumer") hat noch keinen deutschen Starttermin.
Le ciel flamand (Belgien 2016)
Zunächst verspricht die Handlung ein gehöriges Stück Situationskomik: Mutter und Großmutter führen gemeinsam ein Bordell, und für die sechsjährige Tochter Eline ist das schöne Rotlicht ein selbstverständlicher Teil ihres Lebens. Ihre Mutter erklärt ihren Job so: Menschen, die Hilfe brauchen, kommen zu ihr, um sich eine Umarmung abzuholen. Der Einstieg in den Film ist unbeschwert, amüsant sogar, der Alltag der Frauen hat etwas Selbstironisches, Emanzipiertes. Bis Eline einmal unerlaubt das Bordell betritt, weil sie an ihrem Geburtstag nicht länger auf ihre Mutter warten will, und dabei einem Freier in die Arme läuft. Dem will sie natürlich helfen und umarmt ihn gleich. Das hat fatale Folgen.
Regisseur Peter Monsaert erzählt diese wirklich schwere Kost wahnsinnig behutsam und mit sehr viel Feingefühl und gewissenhafter Recherche. Die Figuren sind allesamt authentisch geschrieben und wirken lebensecht, was die Geschichte umso schwerer verdaulich macht. Allen voran Hauptdarstellerin Sara Vertongen und ihre tatsächliche Tochter Esra Vandenbussche liefern gemeinsam eine starke Performance, die unter die Haut geht. Je haarsträubender die Handlung wird, desto ruhiger scheint der Film zu werden, denn er geht nur sparsam um mit Musik. Stattdessen besteht der Soundtrack hauptsächlich aus Hintergrundgeräuschen: So brummt der Kühlschrank etwa in positiv besetzten Szenen anders als in verhängnisvollen. Das fällt dem Zuschauer zwar natürlich nicht bewusst auf, trägt aber zum mitreißenden Gesamteindruck bei, der auch nach Ende des Films bleibt. nc
"Le ciel flamand" hat noch keinen deutschen Starttermin.
Loveless (Russland 2017)
Regisseur Andrey Zvyagintsev steigt nicht nur langsam in seine Geschichte ein, er erzählt den kompletten Film hindurch mit einer unglaublichen Ruhe, und das über zwei Stunden hinweg. Dank des allumfassenden, so typisch russischen Gefühls herannahenden Übels merkt man "Loveless" seine Überlänge jedoch gar nicht an. Den Jungen, der laut Titel so lieblos leben muss, sieht der Zuschauer nämlich kaum: Gleich zu Beginn muss Alyosha nachts einen Streit zwischen seinen mitten in der Trennung steckenden Eltern belauschen, die sich nicht einigen können, wer das Sorgerecht übernimmt - weil keiner der beiden ihn will. Also reißt er von Zuhause aus. Diese Szene ist zwar herzzerreißend, aber darum geht es Zvyagintsev gar nicht: Der Kern der Story ist nämlich, wie die Eltern nun mit dem Verschwinden ihres ungeliebten Sohnes umgehen.
Bis auf den Jungen, der automatisch das Mitgefühl des Publikums auf sich zieht, sind die Figuren in "Loveless" allesamt unsympathisch. Die Eltern sind egoistisch, die Polizei gleichgültig, niemand interessiert sich wirklich für Alyoshas Schicksal. Und trotzdem - oder vielleicht auch gerade deswegen - sind ihre ungeschönten Reaktionen spannend zu beobachten, der Auseinanderfall einer ohnehin kaputten Familie unbequem und faszinierend zugleich. "Loveless" ist sicherlich kein Film, der Spaß macht, fesselt als düsteres Beziehungsdrama aber dennoch, denn Andrey Zvyagintsev weiß genau, was er tut. Schon 2015 war er mit "Leviathan" für den fremdsprachigen Oscar nominiert, "Loveless" wurde nun in Cannes der Preis der Jury verliehen. nc
"Loveless" wurde auf dem Filmfest mit dem ARRI/OSCRAM Award ausgezeichnet und kommt voraussichtlich im Frühling 2018 in die deutschen Kinos.