Filmfest 2016
Erich Kästner - Ein Held?
Der Film „Kästner und der kleine Dienstag“ zeigt den Autor Erich Kästner, wie ihn die wenigsten kennen.
Obwohl man mir eintrichterte, der Autor sei tot, habe ich von keinem Schriftsteller ein lebendigeres Bild vor Augen als von Erich Kästner. Seine warmherzige Stimme dringt aus jeder Seite seiner Bücher, und die wohlwollenden Ratschläge an seine großen und kleinen Leser, die er geschickt in den Text einwebt, gehen mir sofort ins Herz. Dabei sehe ich ihn vor mir, wie er wie im Intro zum Film „Das doppelte Lottchen“ aus dem Jahr 1950 stattlich gekleidet in Jackett und Krawatte vor dem schweren Buch lehnt und mit ruhiger Stimme zu erzählen beginnt.
Wenn er so klar und deutlich vor meinem geistigen Auge auftaucht, scheint mir nur eine Person geeignet zu sein, Erich Kästner zu verkörpern, und das ist Herr Kästner selbst.
Der Kinderbuchautor so gar nicht kinderlieb
So fällt es mir in der ersten Viertelstunde der Verfilmung „Kästner und der kleine Dienstag“ schwer, Erich Kästner in dem mit Wasserwellen versehenen Florian David Fitz zu erkennen. Der junge Mann auf der Leinwand ist alles andere als warmherzig und kinderlieb und gleicht so gar nicht meinem Bild im Kopf. Dass ihn sein treuer Fan Hans-Albrecht Löhr auf Schritt und Tritt verfolgt und in ihm seit „Emil und die Detektive“ sein großes Idol findet, passt dem Autoren gar nicht in den Plan. Denn er möchte nicht als Kinderbuchautor, sondern als geistreicher Dichter und Denker von einem reiferen Publikum verehrt werden.
Es ist schwer, ein Held zu sein
Auf diese leicht verklärende Weise macht der Film darauf aufmerksam, dass Kästner weitaus mehr aufs Papier brachte als Kinderkrimis und kuriose Verwechslungsgeschichten. In Romanen und Gedichten macht er bereits vor Hitlers Machtübernahme auf die Gefahr, die von der NSDAP ausgeht, aufmerksam – weshalb ihm im Dritten Reich ein Schreibverbot auferlegt wird.
Nicht nur er, auch sein allmählicher Ziehsohn Hans-Albrecht erfährt die Schrecken des NS-Regimes. Sein Schulfreund Wolfi wird aufgrund seiner jüdischen Wurzeln bloßgestellt und geächtet. Wie er es in „Das fliegende Klassenzimmer“ gelernt hat, steht er auch jetzt zu seinem Freund und begibt sich für ihn sogar in große Gefahr. Kästner ist entsetzt davon, wie sehr sein Lehrling seine Schrift beim Wort nimmt. Verlassenen Mutes brüllt er ihn an: „Hans, es gibt klugen Widerstand und es gibt dummen. Und sich selber in Gefahr zu bringen, oder irgendjemandem zu helfen, das ist nicht heldenhaft, das ist einfach nur dämlich.“ Fazit: Es ist leichter, einen Helden zu erfinden, als selbst einer zu sein.
Kästner aktuell
Auch wenn Kästner nicht immer nach seinen eigenen Gesetzen handelt, sind seine Worte oft wegweisend. Durch den ganzen Film hinweg schmiegen sich Zitate des Autors ins Drehbuch ein, die sein Fan Hans-Albrecht sogleich in die Tat umsetzt. Noch heute, über 40 Jahre nach dem Tod des Schriftstellers, zeigen Kästners Worte Wirkung. Das wird besonders deutlich, als Kästner die Bücherverbrennung im Mai 1933 durch die Nazis, an der er selbst zugegen war, kommentiert: „Ein paar zündeln und der Rest guckt ratlos zu.“
Was damals Bücher waren, sind heute Flüchtlingsheime. Den Filmschaffenden von „Kästner und der kleine Dienstag“ gelingt es mit Bravur, Kästners Scharfsinn vom Buch auf die Leinwand zu projizieren. Und das ist weitaus wichtiger, als dass er meiner Kästner-Vorstellung gleicht wie Luise dem Lottchen.
Auf dem Filmfest läuft "Kästner und der kleine Dienstag" am 26. und 28. Juni. Ein bundesweiter Kinostart steht noch nicht fest.