Filmfest 2017
Familien fernab von Klischees
Pio und seine Familie, er steht auf einmal im Mittelpunkt und muss sich verantworten
Das internationale Filmfest zeigt uns, wie unterschiedlichste Familien überall auf der Welt zusammen leben: realistisch, krass und gefühlsecht.
Familien sind eigentlich immer viel komplexer als Vater, Mutter, Kind. Wie Tolstoi am Anfang von Anna Karenina schreibt: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich." Und damit ist schon wunderbar zu drei der Familienfilme auf dem diesjährigen Filmfest - oder besser: Filme über Familien - herangeführt. Jeder ist etwas ganz besonderes und alle drei sind für sich besonders sehenswert.
Happy End
Die großbürgerliche Familie in Michael Hanekes neuem Film lebt in einer riesigen Stadtvilla in Calais und lässt sich dort von einem marokkanischen Ehepaar umsorgen. Die Familienmitglieder sind alle von Symptomen gezeichnet, die gleichsam für ihren Charakter, wie auch sinnbildhaft für die heutige Gesellschaft stehen. Da wären die Unehrlichkeit und Gefühlskälte von Sohn Thomas, der Ehrgeiz und die Arroganz von Tochter Anne (Isabelle Huppert), die Grausamkeit und Hilflosigkeit von Enkeltochter Eve und der dringende Wunsch des Großvaters, seinem schleichenden Alterungsprozess ein rapides Ende zu bereiten. Sie alle nehmen bis zum Ende des Films Schuld auf sich, ohne dafür gerade zu stehen. Sie alle sind sich unerreichbar fern und leben das Gegenteil von familiärer Liebe. Neben der Ausarbeitung der Charakterzüge werden aktuelle Thematiken durch metaphorische Bilder in die Handlung eingebaut. Eine Gruppe Flüchtlinge erscheint ungebeten auf einer Party, Annes Sohn verlässt das Familienunternehmen, der Großvater versucht, einer Gruppe Migranten Drogen zu verkaufen. Ein Film à la Haneke, der einen überraschenderweise auch ab und an zum Lachen bringt.
"Happy End" läuft noch ein Mal auf dem Filmfest München.
A Ciambra (Young Lions of Gypsy)
In Calabria lebt eine Sinti und Roma Familie in einem Vorort voller Elend und Müll. Das Leben ist gezeichnet von Gewalt, die Polizei kommt regelmäßig für Kontrollen vorbei. Der 5-jährige Sohn läuft mit einer Zigarette im Mund über den Hof und beschimpft seine Mutter, die Schwester ist gerade zehn, trägt ein Piercing und viel zu viel Make-Up. In der Küche wird geschrien, geflucht, vor den Kindern getrunken. Es ist nie genug Geld da und das treibt Vater, Onkel und großen Bruder in die Kriminalität. Der Großvater lebt geistig in einer anderen Zeit, er sieht sich noch wie einst mit einem wilden Pferd durch die Landschaft reiten. In der Mitte von all dem: der 13-jährige Pio. Als Protagonist begleitet der Zuschauer ihn auf seinem Weg. Ungewollt wird Pio zum Oberhaupt der Familie, as die Polizei alle männlichen Erwachsenen ins Gefängnis steckt. Von nun an ist Pio dafür zuständig, das tägliche Brot zu besorgen. Seine Oma ist immer wieder kurz vor einem Nervenzusammenbruch und flucht schöner und leidenschaftlicher als jeder andere. Pio freundet sich mit dem Flüchtling Aviya aus Burkina Faso an, der ihm das eine oder andere Mal aus der Patsche hilft und schließlich zu einem Vater und Bruderersatz wird. Regisseur Jonas Cardigan knüpft mit dem Film an sein Debüt Mediterranea an, das die Geschcihte von Aviya erzählt.
"A Cambria" läuft noch ein Mal auf dem Filmfest München.
La Familia
In Venezuelas Hauptstadt Caracas lebt eine Familie, die im Kern nur zwei Leute trägt. Vater Andrés und sein Sohn Pedro leben in einem heruntergekommenen Arbeiterviertel, wo Pedro täglich mit seinen Freunden durch die Straßen zieht. Schwere Gewalt, Drogen und Kriminalität sind hier Teil des Alltags. Vater und Sohn sehen sich kaum, gehen sie doch beide ihren unterschiedlichen Leben nach. Als eine Schlägerei eskaliert und Pedro einen anderen Jungen mit einer Glasflasche lebensgefährlich verletzt, verlässt er mit seinem Vater fluchtartig die Wohnung und begibt sich mit ihm auf eine lange und beschwerliche Reise. Der Vater will seinen Sohn schützen, doch die Dynamik und die Entfremdung machen es ihnen nicht leicht auf ihrem Weg, zueinander zu finden. Doch je länger Andrés und Pedro gemeinsam unterwegs sind, desto mehr nähern sie sich wieder an. Regisseur Gustavo Rondón Córdova erzählt den Film nicht zuletzt auch im Zusammenspiel mit der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Krise in Venezuela.