Haus der Kunst
Hanne Darboven: Aufklärung
Das Haus der Kunst zeigt eine Retrospektive der Jahrhundertkünstlerin: Wer Quersummen mag, wird "Aufklärung" lieben.
Der erste Eindruck ist zugegeben recht fad. Wer nichts als die überdimensionalen Poster im U-Bahnschacht als Ausgangspunkt hat, erwartet Buntes, Vielfältiges, vielleicht gar Groteskes. Dagegen bietet der Blick in den ersten Ausstellungsraum reinste Einöde: Schwarz auf Weiß, ein Rahmen nach dem anderen, nichts als kursive Fantasieschnörkel an der Wand. "Ein Jahrhundert-ABC" nennt sich das, die numerische Berechnung eines ganzen Jahrhunderts mithilfe akribischer Quersummenbildung. Zumindest das Groteske mag man der Ausstellung also nicht abstreiten; aber was ist daran Kunst?
Zu Ehren der Jahrhundertkünstlerin
1941 in München geboren, in Hamburg aufgewachsen und studiert, mauserte Hanne Darboven sich in den Sechzigern zur radikalen Konzeptkünstlerin. Konzeptkunst (Concept Art) gilt als Weiterentwicklung des Minimalismus und Abstrakter Malerei, hat also kaum mehr etwas mit der traditionellen Kunstvorstellung eines hübschen Gemäldes zu tun. Vielmehr steht die Idee, also das Konzept, über der eigentlichen Ausführung, was Skizzen, Anleitungen, Kalender und dergleichen zu gleichwertigen Elementen musealer Ausstellungen macht.
Darboven gehört hierbei zu den wichtigsten Vertretern Deutschlands, die sich bewusst in erster Linie als Schriftstellerin und Komponistin verstand, nicht als Künstlerin. Und das illustriert "Aufklärung" auch eindrücklich: Als Besucher gewinnt man weniger das Gefühl, eine Kunstausstellung zu betreten, als das mit größter Akribie geführte und in übermenschliche Proportionen aufgeblähte Logbuch einer Geschichtsschreiberin. Alles ist dokumentiert, jedes Datum aufgelöst in nackte Zahlen. Das ist systematisch und unemotional. Vor allem aber zeugt es von nahezu wahnsinniger Disziplin: Darboven hatte einen festen Arbeitstag mit einem strikt festgelegten Tagesablauf, währenddessen man sie unter keinen Umständen unterbrechen durfte. Anders hätten die hier ausgestellten Arbeiten mit teilweise über hundert Einzelblättern auch gar nicht zustande kommen können.
Anthropologin des Alltäglichen
Zu sehen ist im Haus der Kunst die Wunderkammer einer Kulturgeschichte, wie Hanne Darboven sie dokumentiert hat. Neben vielerlei geometrischen Formen, die innerhalb ihrer Denklogik das Verstreichen von Zeit und die Vergänglichkeit des Individuums einfangen, sind auch zahlreiche Collagen ausgestellt. Kitschige Postkarten bilden einen zynischen Kontrast zu klinisch angefertigten Zahlenreihen, Katalogausschnitte und Briefe überbrücken Jahrzehnte, und ganze Wände sind mit Magazincovern tapeziert. Hinter einem abgewetzten Schaukelpferd wartet eine Flut von Spiegel-Titelbildern. Kein Verlass mehr auf Amerika? Sterben die Deutschen aus? Fortschritt macht arbeitslos! Das kann ebenso amüsant wie verwirrend sein, denn Darboven lässt den Betrachter allein mit ihrer Arbeit: Sie bietet nichts als ein Archiv, eine abstrakte Chronologie. Die passende Erzählung dazu muss das Publikum selbst finden.
Die Breite der Welt in Zahlen
Die Prinzipien der europäischen Aufklärung: Vernunft, Wissenschaft, der Wert des Individuums. Mit diesem nüchternen Blick auf die Welt abstrahiert Hanne Darboven den Fluss der Zeit zu einer langen Reihe von Schnörkeln auf Papier. Darin kann sich nicht jeder wiederfinden, denn es fehlt das Persönliche. Aber vielleicht verbirgt sich dahinter ja auch die ultimativ objektive Geschichtsschreibung. Und wenn man die nicht lesen kann, so kann man sie wenigstens hören: Denn Darboven steckte viel Zeit und Arbeit in die Übersetzung ihrer Zahlensystematik in Musik. Wenn auch gewöhnungsbedürftig, so macht diese Musik ihr Wirken doch noch einmal gehörig zugänglicher. Wer "Aufklärung" besucht, passt also am besten eine der Live Performances ihrer Stücke ab.
"Aufklärung", die Retrospektive zu Hanne Darbovens Werk, ist vom 18. September 2015 bis 14. Februar 2016 im Haus der Kunst zu sehen.