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Idyllen in der Halbnatur

Quelle: © Carl Hanser Verlag, Keystone Pressedienst

Idyllen in der Halbnatur

Wilhelm Genazino resümiert sein eigenes Werk. Ein Buch über das Schreiben von Büchern.

Wilhelm Genazino resümiert sein eigenes Werk. Ein Buch über das Schreiben von Büchern.

Was qualifiziert einen Autoren zur Erklärung des Umstandes, dass das Leben ohne Bücher kaum auszuhalten ist? Ein eindrucksvoller Mensch steckt hinter diesem Buchumschlag allemal: Wilhelm Genazino ist mehrfach ausgezeichneter Schriftsteller und gehört spätestens seit seiner "Abschaffel"-Trilogie zu den wichtigsten deutschen Gegenwartsautoren. Der darin portraitierte "Workaholic des Nichtstuns" begeisterte in den Siebzigern eine weitreichende Leserschaft. Bei derart populären Autoren ist es nicht ungewöhnlich, dass bald mehr verlangt wird. "Idyllen in der Halbnatur" möchte dieses Verlangen mit Essays und abgedruckten Vorlesungen stillen.

"Von der Bruchbudenhaftigkeit des Schönen"

Eine solche Ansammlung von Kurztexten muss keineswegs langweilig sein; oder zumindest beginnt sie nicht als solches. Gleich der erste Essay, vielleicht bewusst vorangestellt, lässt ein Buch voller ungewöhnlicher Alltagsbetrachtungen erwarten, indem er über das Phänomen verlorener Schuhe philosophiert.

"Rätselhaft ist der starke Eindruck, den herumliegende Schuhe auf die anderen Passanten machen, die niemals Schuhe verlieren. Im Gegenteil, die 'anständigen', skandalfreien Schuhträger erleben in solchen Augenblicken eine gewisse Stärkung ihres ordentlichen Lebensgefühls. Es ist, als wären herumliegende Schuhe kleine Denkmale, die uns daran erinnern, dass wir nicht einen halben Tag lang vom rechten Weg abkommen dürfen. Sonst droht uns ein Lebensgefühl, das Eugène Ionesco (in seinem Tagebuch) auf diesen Punkt gebracht hat: Wir alle fürchten uns vor der plötzlichen Entdeckung, dass unser Leben 'verpfuscht' sein könnte."

Stets werden eigene Beobachtungen mit Zitaten großer Köpfe verflochten, und es ist fast, als entstünde ein Teppich gesammelten Wissens über die tiefste menschliche Natur - ein Teppich, auf dem man sich gerne niederlässt. Denn er ist nicht nur interessant anzuschauen, sondern ebenso unterhaltsam. Nicht umsonst ist Genazino Träger des Kasseler Literaturpreises für grotesken Humor.

"Das Bild des Autors ist Roman des Lesers"

Leider hat das Buch jedoch nur wenige derartige Essays zu bieten. Vielmehr legt der Autor einen Schwerpunkt auf die akribische Entschlüsselung seines Eigenwerkes: Kern dieser Textsammlung sind die Bamberger Vorlesungen aus dem Jahre 2009. Hier wird bis ins kleinste Detail ergründet, was für begeisterte Genazino-Fans ein Schmaus sein muss, für jeden Gelegenheitsleser seiner Arbeiten jedoch in detailverliebte Selbstbetrachtung ausartet. Seiten um Seiten lesen sich wie ein interpretatorischer Aufsatz, wie man ihn aus Deutsch-Leistungskursen oder dem Germanistik-Studium kennt. Nur ist es hier eben der Autor selbst, der sein Werk aufs Sorgfältigste analysiert. Das wird schnell ermüdend.

Was die dröge Aneinanderreihung von Selbstanalysen rettet, sind die Einstreuung von kleinen Anekdoten und die Abschweifungen hier und da, die Genazinos größten Einflüssen Anerkennung zollen. Große Namen wie Beckett, Woolf oder Freud, Adorno und Foucault werden zum Gegenstand von Interpretation, sowohl im Rahmen ihres eigenen Schaffens, als auch im Kontext von Genazinos Werk. Besondere Erwähnung erfährt Kafka; unter anderem dank seines aufschlussreichen Äußeren. Zumindest gibt laut Genazino allein schon das Haar des Tschechen Aufschluss über seine innere Unruhe.

"Wir erkennen das zurechtgestutzte, gelackte und offen unterdrückende Moment des kleinbürgerlich geduckten Daseins, unter dem Kafka sein kurzes Leben lang gelitten hat. Der Mittelscheitel ist so exakt und makellos ausgeführt, dass die Kopfhaut darunter als weiße Linie erscheint und unserem Assoziationsvermögen die Idee einer Spaltung nahelegt oder eingibt. Mit ein wenig Phantasie können wir die Spaltungslinie des Mittelscheitels nach vorne verlängern und sie in der Verlaufsform der Nase fortgesetzt finden, die - mit scharfem Kamm - das Gesicht genauso teilt wie der Mittelscheitel den Kopf. Mit diesen Assoziationen ist es plötzlich einleuchtend, sich unter dem Hauptproblem des abgebildeten Mannes eine innere Aufspaltung und die dazugehörige Zerrissenheit vorzustellen."

Wenn man diesen Betrachtungen auch nicht vollkommen zustimmen mag, so sind sie doch immerhin amüsant zu lesen.

"Der Roman als Delirium"

In seinen Essays erscheint Wilhelm Genazino nicht nur als Schriftsteller, sondern als Philosoph. Der menschlichen Psyche in all ihren Facetten nähert er sich über die Literatur an. Langeweile, Melancholie, Ehrgeiz, Ironie und Phantasie sind neben zahlreichen großen Dichtern und Denkern der letzten zwei Jahrhunderte die Protagonisten dieses Buches, verwoben mit der eigenen Lebensgeschichte des Autors. Wer nicht selbst schon einmal Philosophie, Germanistik oder Kunstgeschichte zumindest im Eigenstudium erlernt hat, der wird sich häufig überrumpelt fühlen von der oft beiläufigen Erwähnung großer theoretischer Konstrukte. Erklärt wird hier nichts; vielmehr soll die Anordnung all diesen Wissens im großen Ganzen sinngebend sein. Mit einem lebendigen Interesse an dieser Art von Materie liest sich das auch hervorragend. Doch für solche, die Genazino nicht viel abgewinnen können oder gar noch nie von ihm gehört haben, ist "Idyllen in der Halbnatur" durchaus verzichtbar.

 

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