Dokumentarisches Theater
Lesung aus den NSU-Protokollen
Die Ensembles von Residenztheater, Kammerspiele und Volkstheater lesen zwei Stunden aus den NSU-Protokollen. Ein aufwühlender Abend.
Bereits im sechsten Jahr befindet sich derzeit der Münchner NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Unterstützer des Terrortrios. Was alles im Jahr 2017 vor Gericht passierte, hat das Magazin der Süddeutschen Zeitung protokolliert. Die Ensembles der drei großen Münchner Theater lesen daraus vor:
20.01 Uhr, Marstall
Das Licht auf der Bühne wird hell. Das Zuschauerlicht gedimmt. 20 Schauspielerinnen und Schauspieler des Residenztheaters, der Kammerspiele und des Münchner Volkstheaters betreten die Bühne. Manfred Zapatka nimmt auf der linken, Julia Richter auf der rechten Bühnenseite Platz. Sie setzen sich jeweils an einen schwarzen Tisch. Nur ihre Textbücher und eine Karaffe mit Wasser stechen heraus. Die beiden bleiben den ganzen Arbeit an diesen Tischen sitzen und lesen den Vorsitzenden Richter Manfred Götzl (Zapatka) und die Protokollantin (Richter).
Die anderen 18 Ensemblemitglieder der drei Theater nehmen auf einer Bank im hintersten Teil der Bühne Platz. In der Mitte stehen fünf Mikrofone, ebenfalls schwarz. Die Lesung aus den Protokollen des fünften Jahres beginnt.
20.01 - 20.23 Uhr
Chronologisch wird aus den Protokollen gelesen. Nach und nach treten einzelne Schauspieler nach vorne zu den 5 Mikrofonen. Sie lesen die verschiedenen Zitate der Prozessbeteiligten vor, meist bewusst nüchtern, mal etwas pointiert. Dann treten sie wieder nach hinten und nehmen auf der Bank Platz. Das Publikum lauscht gebannt den Worten auf der Bühne. Kaum ein Räuspern oder Husten ist zu hören.
20.23 - 20.24 Uhr
Aurel Manthei und Gunther Eckes stehen vor den Mikros. Sie lesen Olaf Klemke (Anwalt von Ralf Wohlleben) und Mehmet Daimagüler (Vertreter den Nebenklage). Wohlleben, der dem NSU-Trio die Tatwaffe besorgt haben soll, wird von seinem Anwalt als “Retter des deutschen Volkes” bezeichnet. Daimagüler antwortet geschickt auf die Provokation des Anwalts.
“Sich für den Erhalt seines Volkes einzusetzen, ist nicht nur verfassungsrechtlich garantiert, sondern erlaubt es auch, sich gegen das allmähliche Verschwinden seines Volkes und gegen einen massenhaften Zuzug von Nichtdeutschen zu wenden.”
"Wenn sich der Angeklagte Wohlleben das zu eigen macht, was Herr Klemke eben vorgetragen hat, sind jegliche Zweifel an seiner ideologischen Ausrichtung ausgeräumt. Er will damit sagen, dass Menschen, die hier geboren sind, die Kinder haben, die Enkel haben, keine Deutschen sind.”
Ein leichtes Raunen ist im Zuschauerraum zu hören. Solche Worte in einem Prozess zu benutzen, indem die Morde an mindestens neun ausländischen Mitbürger verhandelt wird, scheint für die Zuschauer äußerst menschenverachtend.
Rückblick: Ein Eindruck aus der Lesung des dritten Jahres.
20.24 - 21.45 Uhr
Die Schauspieler treten vor zu den Mikros. Sie lesen und setzen sich wieder. Manfred Zapatka und Julia Richter führen geschickt in die einzelnen Verhandlungstage ein. Die Besetzung der Prozessteilnehmer ist dabei äußerst gelungen und so lesen die Schauspieler mal einen Anwalt der Angeklagten und dann wieder einen Anwalt der Nebenklage. Als Zuschauer ist man voll und ganz in den Bann gezogen. Teils ist man perplex über die Aussagen der Anwälte der Angeklagten, teils aber auch schockiert über die Verstrickungen des Verfassungsschutzes oder die schlechte Vorbereitung des Sachverständigen Henning Saß. (gelesen von Peter Brombacher)
“Haben Sie am ersten Verhandlungstag Notizen angefertigt?"
"Ja."
"Wo befinden sich diese Notizen?"
"In meinem Arbeitszimmer in Aachen.”
21.45 - 22.10 Uhr
Inzwischen sind alle Schauspieler mehrmals vor die Mikrofone getreten und haben aus den Protokollen gelesen. Wenn sie nicht an der Reihe sind, folgen auch sie gebannt den Worten ihrer Kolleginnen und Kollegen. Die dann stattfindenden Schlussplädoyers sind dann nochmals sehr eindrücklich und emotional.
“Frau Zschäpe, können Sie nachts einschlafen, wenn Sie ihren Kopf auf das Kissen legen?
Ich kann auch nach 11 Jahren nicht einschlafen, denn ich vermisse meinen Sohn so sehr!”
22.11 Uhr
Schlussapplaus. Der Applaus fällt eher kurz aus. Was aber wohl mehr an der aufwühlenden Thematik, als an der Leistung der Schauspieler liegt.
22.14 Uhr
Die Schauspieler verlassen die Bühne. Zurück bleibt ein Publikum, dass das Gehörte erst einmal verdauen muss. Obwohl der NSU-Prozess in München stattfindet, sind die Details aus dem Prozesssaal meist unbekannt. Die regelmäßigen Lesungen in Kooperation mit dem SZ-Magazin schaffen es, den Prozess so für die Allgemienheit zu öffnen. Dass Residenztheaters, Kammerspiele und Volkstheaters dabei ZWANZIG Schauspielerinnen und Schauspieler “abstellen”, zeigt auch die Wichtigkeit, die alle drei Häuser diesem Prozess beimessen.
Obwohl der Prozess noch andauert, lautet das Urteil zur Lesung jedenfalls “Sehr gut!”