Auf Twitter ist eine Literaturavantgarde entstanden, die Alltagsszenen in einem schöngeistigen Format verpackt. Aber wer steckt dahinter?
In nur 140 Zeichen möglichst aktuell, informativ oder provokativ sein – das ist das Ziel vieler Nutzer des Nachrichtenportals Twitter. Hier streiten sich Politiker, beleidigen sich Kritiker und solidarisieren sich Gleichgesinnte. Aber so muss es nicht sein. Das zeigen junge Literaten, die ihre Gedichte und Kurz-Prosa als Tweets veröffentlichen und sich im Netz mittlerweile eine eigene Community aufgebaut haben. Damit bieten sie nicht nur der Literatur eine neue Bühne, sondern machen den Nachrichtenkanal auch zu einem vielfältigeren virtuellen Ort.
„Das Richtige zu tun kann sich verdammt falsch anfühlen“, twittert
JuliaSinglesias nachdenklich. Und
SileMartin postet nach einem scheinbar unruhigen Schlaf: „Man kramt in der Nacht nach dem Schlaf und findet ihn am Morgen, wenn sich die Gedanken ausgetobt haben.“ Twitter-Nutzer wie „SileMartin“ oder „JuliaSinglesias“ nutzen den schnelllebigen, lauten Kanal, um sich gefühlvoll, witzig oder geistreich mitzuteilen.
Während die Community in Deutschland noch wächst, sind die „Twitteraten“ in Amerika bereits zur neuen Literaturavantgarde aufgestiegen. So auch
NeinQuarterly, der poetisch-philosophische Tweets auf Englisch und Deutsch postet. Hinter den oft pessimistisch und stumpf daherkommenden Kommentaren steckt der New Yorker Eric Jarosinski, ein US-amerikanischer Germanist, der sich selbst als #failedintellectual bezeichnet.
136.000 Menschen folgen ihm auf Twitter. Damit ist er so erfolgreich, dass sich der virtuelle Poet auch vor ein physisches Publikum traut: Im Sommer tourte er unter anderem durch Deutschland, um auf Onlinekonferenzen wie der „re:publica“ in Berlin oder der „#dico“, einer Medien- und Publishingkonferenz in München aufzutreten.
Nicht länger als 140 Zeichen dürfen die Tweets bei Twitter sein. Damit bieten sie nicht viel Platz für ausgeschweifte Formulierungen oder lange Gedichte. Für die jungen Literaten und Poeten ist das kein Hindernis: Unter dem Hastag „haiku“ veröffentlichen hunderte Twitter-Nutzer lapidare Dreizeiler, die von philosophischen, die-Welt-Ordnung-in-Frage-stellenden Tweets, über kitschige Liebes-Reime, bis hin zu schwarzem Humor reichen. Manchmal sind sie auch einfach nur belanglos.
Ins Deutsche übersetzt heißt „Haiku“ soviel wie „scherzhafter Vers“. Das ist eine traditionelle japanische Gedichtform und gleichzeitig auch die kürzeste der Welt. Perfekt also für Twitter.
Als „It-Boy der New Yorker Literaturszene“ oder „Kafka des 21. Jahrhunderts“ hat sich
Tao Lin im Netz einen Namen gemacht. In ihrer Absurdität und Zusammenhangslosigkeit wirken seine Tweets tatsächlich kafkaesk. Eine Auswahl seiner Kurznachrichten hat der 33-Jährige, der sonst auch klassische Romane schreibt oder Artikel bei Vice veröffentlicht, gemeinsam mit
Mira Gonzales in dem Buch „Selected Tweets“ veröffentlicht.
Genau wie Lin kann sich auch Gonzales über ihre Followerzahl nicht beschweren. 23.100 Menschen folgen der 24-Jährigen, die in ihren Gedichten über Sex, Drogen und über sich selbst schreibt. Kompromisslos sollen ihre Tweets sein und „wild, traurig, lustig“ - wie die Gegenwart eben.
Beobachtungen aus der Straßenbahn und Liebeskummer statt politischer Debatten und Shitstorms. Die „Twitteraten“ erzählen Geschichten aus dem echten Leben. Diese Wahrhaftigkeit ist es wohl auch, die virtuelle Poeten so beliebt macht. Und auch der Nachrichtenkanal profitiert von den schöngeistigen Tweets. Neben all der Brisanz und Schnellebigkeit, neben all den politischen Debatten und Shitstorms, eröffnet sie dem Kurznachrichtendienst mehr Raum für leisere, feinfühligere und künstlerische Inhalte.