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Hausgemachter HiFi Pop: Grimes - Visions [4AD]

Platte des Monats März 2012

Autor(en): Lili Ruge am Donnerstag, 1. März 2012
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An einem Ort, Jahrhunderte entfernt, würde Grimes als Sirene irgendwo im Tyrrhenischen Meer leben. Sie würde ihre Hörer locken, doch nicht zulassen, dass diese sich ihr nähern.

Es gibt diesen Moment, der sich irgendwo in der Mitte beim Hören von Grimes bisher dritten Album einstellt: die Musik macht einen nervös, gleichzeitig erschlägt sie einen schier mit ihrem Ideenreichtum und jeder Song auf Visions weckt Begehrlichkeiten, die jedoch nie erfüllt werden.

Mit Authentizität gegen Entfremdung

Grimes lässt uns teilhaben an ihrer ureigenen Vision, die durch die Reizüberflutung einer glitzernden, widersprüchlichen Realität ausgelöst wird. Mit einer sehr eigenen und etwas schrillen Musik, irgendwo zwischen Elektropop und Witch House, zieht sie uns hinein in ihre Fantasie.
Da ist zum Beispiel der Song ‚Genesis‘, der ein wenig so wirkt, als hätten sich Lykke Li und Pharrell Williams getroffen um zusammen auf LSD mit E-Pianos zu spielen. Grimes effektverschleierter und sich selbst überlagernder Gesang trifft auf eine schwungvolle Synthiebasslinie und einen treibenden Beat um die 80 Bpm, aber trotz allem klingt der Song so, als wäre er nie richtig zu Stande gekommen.
Das ist symptomatisch für Grimes Musik. Eingängige Melodien werden zerfleddert und die Songs enden kurz bevor ihr Leitthema zum Ohrwurm wird. Mit dieser Unzugänglichkeit zeigt Grimes ihre Interpretation einer massentauglichen Kultur, von der sie sowohl angezogen als auch abgeschreckt ist.
Einerseits badet sie regelrecht im Mainstream, Beyoncé, Rhianna und Katie B zählt sie zu ihren prägenden Einflüssen. Andererseits sträubt sie sich gegen Massentauglichkeit, in einer Welt, in der Celebrities allgegenwärtig sind und Musik nach entfremdenden Marktmechanismen funktioniert. Während eine paradoxe Populärkultur sich zu globaler Deutungshoheit aufschwingt, filtert Grimes ihre Eindrücke und schießt sie zurück in den Äther.
Ihre Position gegenüber populärer Musik ist ambivalent, dennoch verstrickt sie sich nicht in Widersprüchen. Ihre Ambivalenz macht sie zu ihrem Markenzeichen und zum radikalen Prinzip ihrer Musik. Sie kann sich diese Radikalität erlauben, denn sie hat ihren musikalischen Output gänzlich selbst in der Hand und schafft es so authentisch zu bleiben, obwohl sie eine profitorientierte Musik spiegelt.

Unschuld gegen Überdruss

Grimes ist ihre eigene Band. Das merkt man auch bei ihren Konzerten, die vergleichsweise puritanisch aufgebaut sind und bei denen man sie hinter einem Stapel aus elektronischen Instrumenten vorfindet. Sie schraubt und dreht und weiß ihren Geräten genau den Sound zu entlocken, den sie haben will.
Dabei hat Claire Boucher erst verhältnismäßig spät angefangen Musik zu machen und auch keine klassische Musikausbildung genossen. Ihre Art Synthesizer zu spielen hat beinahe etwas Kindliches und manche ihrer Melodien würde ein geschulter Musiker so vermutlich nicht verwenden.
Diese Unbefangenheit ist ihre Stärke. Ihre musikalischen Ideen sind unverbraucht und experimentell, denn sie bewahrt sich Gespür und die Offenheit für ihre intuitiven Einfälle.
Der Song ‚Eight’ ist beispielhaft für diesen unvoreingenommenen Ideenreichtum. Im Vordergrund steht ein mächtiges, roboterartiges Sample, darunter liegt ein hiphopartiger Beat mit einem Feuerwerk aus Hintergrundgeräuschen. Über dem Ganzen schwebend: Grimes’ feenartige Stimme, die uns etwas erzählt, das höchstens fragmentarisch zu verstehen ist.
Wie dieser sind alle ihre Songs zu Hause, in ihrer Wohnung in Vancouver, aufgenommen. Zusammengestellt sind sie mit dem einfachsten denkbaren Musikprogramm. Die Simplizität der Produktionsmittel macht ihre Arrangements allerdings nicht schlechter, sie ist ein Teil des Gesamtproduktes, das durch hochklassige Produktion nur verlieren würde.

Obwohl man das Album auf keinen Track reduzieren kann, ist doch ein Songtitel besonders aussagekräfig. 'Infinite Love Without Fulfillment' steht charakteristisch für Grimes Musik, die uns fasziniert ohne uns das zu geben, was wir wollen. Wir warten darauf, dass Grimes uns ein griffiges Lied präsentiert, etwas woran wir uns festhalten können. Auf Visions wird eindeutig das starke Verlangen nach einem simplen Popsong geweckt.
Auf diesen Song warten wir allerdings vergebens und am Ende der Platte danken wir Grimes dafür.

Visions von Grimes erschien am 31. Januar 2012 bei 4AD

Platte des Monats

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