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Die vergessene Minderheit

Autor(en): am Sonntag, 20. November 2011
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„Zigeuner können nur Kinder und Krach machen. Außerdem klauen sie und haben Läuse.“

Diese beiden Sätze sind nicht nur unverschämt rassistisch, sondern fassen leider auch treffend die Vorurteile gegenüber Sinti und Roma zusammen. Die Fußnoten beschäftigen sich im November mit der „unbeliebtesten Minderheit“ Deutschlands, vermutlich sogar ganz Europas: Den Sinti und Roma.

Mehr als die Hälfte der Deutschen möchte keine Sinti und Roma als Nachbarn haben. In vielen osteuropäischen Ländern kommt es immer wieder zu Gewalt gegen Sinti und Roma.

In einer Studie der Roma-Organisation RomnoKher zur Bildungssituation von deutschen Sinti und Roma gaben fast 45 Prozent der Teilnehmer an ihre kulturelle Identität zu verheimlichen, um Diskriminierungen zu vermeiden.


Dabei weiß die Mehrheit der Deutschen kaum etwas vom Leben und der Kultur der rund 70.000 Sinti und Roma die hier leben. In den Medien werden sie nur im Zusammenhang mit Gewalt und Abschiebungen erwähnt. Bei den großen Integrationsdebatten der Politik spielen sie -wenn überhaupt- nur eine Nebenrolle. Im Schulunterricht werden ihre Kultur fast nie behandelt. Selbst die Verbrechen der Nationalsozialisten an den Sinti und Roma erkannte die Bundesregierung erst 1982 als Völkermord an.



Zigeuner, Rotationseuropäer, Sinti oder Roma?

Über Sinti und Roma wird kaum gesprochen – vielleicht auch, weil man sich nicht auf eine allgemeingültige Bezeichnung einigen kann. „Zigeuner“ ist ein Schimpfwort, dass in der gleichen Kategorie politischer Inkorrektheit spielt wie „Neger“ für Menschen mit schwarzer Hautfarbe.

Fast 95 Prozent der Sinti und Roma empfinden es als Beleidigung von Außenstehenden als „Zigeuner“ bezeichnet zu werden. Trotzdem hat sich der Begriff in Deutschland lange und hartnäckig gehalten. Bis vor ungefähr 25 Jahren war „Zigeuner“ noch gängige Alltagssprache. Viele ältere Menschen benutzen den Ausdruck auch heute noch, da „Zigeuner eben schon immer Zigeuner genannt wurden“. Allerdings ist der Begriff noch nie besonders schmeichelhaft gewesen. Die Herkunft des Wortes ist nicht eindeutig geklärt. Etymologen sind mittlerweile ziemlich sicher, dass „Zigeuner“ nichts mit „ziehenden Gaunern“ zu tun hat. Vielleicht kommt der Begriff vom byzantinisch-griechischen „athinganoi". Das war nicht nur der Name einer altindischen Sekte, sondern bedeutet auch „der Unberührbare“.

Die Suche nach einer politisch korrekten, möglichst umfassenden Bezeichnung für Sinti und Roma hat immer wieder kuriose Wortkonstruktionen hervorgebracht. Seit ungefähr einem Jahr geistert beispielsweise immer mal wieder der Ausdruck „Rotationseuropäer“ durch die Medien. Bei solchen Ausdrücken schieben sich allerdings sofort Bilder von fahrendem Volk in rostigen Wohnwägen vor das innere Auge.

Der Name „Sinti und Roma“ ist nicht klar definiert. „Rom“ bedeutet in der Sprache der Roma zunächst nämlich einfach nur „Mensch“. Oft sind damit aber die Mitglieder der Volksgruppe gemeint, die in Südosteuropa leben oder dort Vorfahren haben.

Sinti sind dagegen in Mitteleuropa beheimatet. Vor allem in Deutschland leben viele Sinti.Sie legen großen Wert auf ihre eigene Kultur und ihre Traditionen. Deshalb spricht man in Deutschland in der Regel auch von „Sinti und Roma“, während im Rest von Europa „Roma“ als Sammelbegriff für alle Mitglieder diese Volksgruppe verwendet wird.


Eigene Kultur – auch ohne eigenes Land

Nicht nur begrifflich ist es schwer Sinti und Roma zu erfassen, da es sich nicht direkt um eine homogene Ethnie handelt. Die Traditionen, Lebensweise und Sprache sind vielerorts sehr unterschiedlich. Die Roma-Sprache Romanes weist zum Beispiel viele verschiedene Dialekte auf. Ungefähr sechs Millionen Menschen weltweit sprechen diese indoiranische Sprache. Trotzdem versteht ein deutscher Sinto, der Sinti-Romanes spricht, nicht problemlos das slowenische Prekmurski-Romanes.


Diskriminierung gestern...

Natürlich sprechen die meisten Sinti und Roma aber auch fließend die Sprache des Landes in dem sie leben. Vor rund 600 Jahren sind die ersten Angehörigen der Volksgruppe in deutschsprachige Gebiete eingewandert. Ursprünglich kommen Sinti und Roma aus Indien. Von dort wurden sie im 11. Jahrhundert vertrieben und zogen von dort nach Europa. Dort wurden sie zunächst auch geduldet. Als die Osmanen dann Europa eroberten verdächtigte man die Sinti und Roma der Spionage und erklärte die „Feinde der Christenheit“ für vogelfrei. Im 18. Jahrhundert verbot Kaiserin Maria Theresia von Österreich Eheschließungen unter Roma. Kinder nahm man damals ihren Eltern weg und gab sie in christliche Pflegefamilien. Auch der Gebrauch ihrer Sprache wurde ihnen immer wieder verboten.

Das wahrscheinlich dunkelste Kapitel der Geschichte der Sinti und Roma spielt im Nationalsozialismus. Das NS-Regime erklärte „Zigeuner“ zu „Angehörigen artfremder Rassen“. In vielen deutschen Städten wurden sogenannte „Zigeunerlager“ errichtet. Von dort wurden viele Sinti und Roma in Konzentrationslager deportiert. Rund 15 000 als Zigeuner oder Zigeunermischlinge stigmatisierte Menschen wurden in dieser Zeit grausam ermordet. Die Überlebenden sind seelisch und körperlich für den Rest ihres Lebens gezeichnet. Für diese Sendung war das Fußnotenteam unter Anderem auf einem Vortrag des Sinto Hugo Höllenreiner. Er kam als Neunjähriger ins KZ, wo Josef Mengele ihn und seine Brüder mit brutalen medizinischen Experimenten quälte.


...und heute

Jahrhundertelange Diskriminierung hat Narben im kulturellen Gedächtnis der Sinti und Roma hinterlassen. Vor allem die Verfolgung durch die Nationalsozialisten ist zu einem kollektiven Trauma geworden, dass von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Das Misstrauen der Sinti und Roma gegenüber Außenstehenden ist groß. Auch heute fällt deshalb vielen Sinti-Kindern der Schulbesuch schwer. Der wichtigste Bezugspunkt ist die eigene Familie. All das erschwert die gesellschaftliche Integration: Die meisten Menschen wissen fast nichts über Sinti und Roma und viele Sinti und Roma wollen nichts mehr von Außenstehenden wissen.

Die Fußnoten fragen auf beiden Seiten nach den Ursachen, werfen aber auch einen Blick auf positive Entwickungen und schauen über die Grenzen auf die Situation von Sinti und Roma in anderen europäischen Ländern.


Die Fußnoten laufen am 27. November um 19 Uhr in der Originalversion. Die Wiederholung gibt es dann mittwochs um 13.00 Uhr. Demnächst auch – leider ohne Musik – hier im Internet in einer GEMA-freien Podcastversion.

Redaktion: Maximilian Scherer, Alexandra Brandner, Michael Gehrig, Johannes Engasser und Kristin Ofer.

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