Harry's Story
Nur wenige wissen, was in China wirklich vor sich geht. Die Geschichte eines Mannes, der die Schrecken des Systems selbst erfahren hat.
In China herrschen Zeiten des Aufruhrs. Doch nur die wenigsten wissen, was genau in der Volksrepublik wirklich vor sich geht. Der chinesische Menschenrechtler Harry Wu hat die Schrecken des Systems am eigenen Leib erfahren und konnte aus China fliehen. In der amerikanischen Hauptstadt Washington, D.C., betreibt er heute ein kleines Museum, es soll den Amerikanern ein Fenster zur Realität in China sein.
Wer das Museum der Laogai Research Foundation in Washington, D.C., finden will, muss genau hinschauen. In einer stillen Seitenstraße, etwas abgelegen vom Stadtverkehr der amerikanischen Hauptstadt, liegt der Eingang im Untergeschoss eines alten Backsteinhauses. Chinesische Schriftzeichen prangen über der Tür, am Einlass sitzt ein älterer Chinese, den Kopf gesenkt, in ein Buch vertieft. Er schaut auf, lächelt und grüßt mit starkem chinesischen Akzent. Harry Wu ist sein Name, chinesischer Dissident, Menschenrechtler.
Gleich zur rechten Seite des Eingangs prangen drei Tafeln, darunter Bilder von Sträflingen, die in Uniform schuften, abgemagerte Gefangene, Berge von Leichen. Auf der ersten Tafel: Konzentrationslager. Das Land, Deutschland, der Zeitraum, 1933-1945, die Zahl der Toten, mindestens 6 Millionen. Daneben die Lager des von Stalin aufgebauten Gulag-Systems, Russland, 1943-1953, über 1 Million Tote. Nach wenigen Sekunden kommt ein Gefühl der Beklemmung auf, ein leeres Gefühl von Unverständnis, wie es nur Besuche in KZ Gedenkstätten oder Holocaust Ausstellungen hervorrufen. Ein Gefühl, dass sich beim Anblick der dritten Tafel in bloßen Schock verwandelt: Laogai Lager, China, der Zeitraum: 1949 - bis heute.
Lao-Gai bedeutet „Reform durch Arbeit“. Lager, die mit dem Ziel errichtet sind, politische Dissidenten auszuschalten - indem sie entweder umkommen oder ihre Denkweisen erzwungenermaßen ablegen. Schätzungsweise 900 Laogais sind in China noch in Betrieb, nach Angaben der Laogai Research Foundation befinden sich derzeit 3 bis 5 Millionen Chinesen in solchen Arbeitslagern. Berichte über die Arbeitslager gibt es bisher nur wenige.
19 Jahre Laogai
„Das war ich“, der ältere Chinese deutet auf die schwarz-weiße Fotografie eines abgemagerten, dem Tode nahe wirkenden Chinesen, gegenüber den Gedenktafeln. 19 Jahre lang war Harry Wu in einem Laogai Lager inhaftiert. 1937 in Shanghai als Sohn eines Bankiers geboren, geriet er im Zuge der Kulturrevolution in den 60er Jahren als Mitglied der „Kapitalistenklasse“ ins Visier der kommunistischen Partei. Seine Tutoren an der Universität in Peking waren Spitzel, die jede kritische Bemerkung Harrys über das System oder Verbündete weiter gaben. Die Lehrer sprachen nicht mit ihm, in Sportteams durfte er nicht teilnehmen. „Man hat nur einen Grund gesucht, mich loszukriegen“, erinnert sich Harry.
1960 war es so weit: Noch vor der Diplomvergabe an der Universität in Peking wird Harry verhaftet und als konterrevolutionärer Rechtsabweichler in ein Arbeitslager gesteckt. Er hatte sich nach Informationen eines Mitschülers kritisch über Russland geäußert. Das Urteil fiel ohne Prozess: Lebenslange Freiheitsstrafe.19 Jahre verbrachte Harry Wu im Arbeitslager, versuchte sich zwei Mal das Leben zu nehmen, hungerte sich bis auf die Knochen ab.
Flucht aus China
Nach dem Tod Mao Zedongs im Jahr 1976 lockerten sich die Verhältnisse, 1979 durfte Harry das Camp verlassen. Er ging als Gastdozent an die Universität Berkley nach Amerika, bekam nach einigen Jahren die amerikanische Staatsbürgerschaft. „Ich wollte meine Geschichte vergessen, diese 19 Jahre einfach ausradieren“, sagt Harry über seine ersten Jahre im Westen. 1990 entschloss er sich dennoch, seine Geschichte zu erzählen. Der republikanische Senator Jesse Helms nahm sich seiner an, im Jahr 1990 sagte Harry erstmals vor dem amerikanischen Senat aus.
„So etwas darf nie wieder passieren“, kommentierte Helms damals, „und ich werde alles dafür tun, dass sich die Situation in China ändert.“ Eine große Versprechung – die bis heute aussteht. Denn 25 Jahre später bestehen immer noch Laogai Lager, deren Größe teilweise auf die amerikanischer Kleinstädte geschätzt wird. Zwar kritisieren die westlichen Länder China zunehmend für die Menschenrechtssituation – doch bleibt dies oft abstrakt, weiß man doch keine genauen Zahlen oder Anhaltspunkte.
Erschreckende Zahlen
Der Rundgang durchs Museum führt vorbei an erschreckenden Zahlen: Mit geschätzt über 10.000 Exekutionen jährlich steht China laut Amnesty International weltweit an der Spitze, gleichzeitig sollen schätzungsweise 95% der für Transplantationen verwendeten Organe in China von Menschen, die exekutiert wurden, stammen. Daneben Videos von Menschen, die der Reihe nach erschossen werden, eine Ausstellung von Produkten, die jeder westliche Bürger in seinem eigenen Kleiderschrank wiederfinden kann, allesamt in Laogai-Lagern gefertigt. Unverständnis, Beklemmung, Schock – handelt es sich hier doch nicht um eine Gedenkstätte, sondern um eine Dokumentation vermutlich aktueller Zustände.
Technologische Riesen, moralische Zwerge
Ein wenig weiter im Museum hängen Bilder von Chinesen an der Wand, Menschen, die sich für die Menschenrechte eingesetzt haben, wie Harry erklärt. Einer von ihnen: Der Journalist Shi Tao. Im Jahr 2004 hatte er über seinen privaten Yahoo Account chinesische Regierungsanweisungen an die „Asia Democracy Foundation“ weiter gegeben. Der Konzern Yahoo informierte die chinesischen Behörden über den Inhalt dieser Mails. Shi Tao wurde zu 10 Jahren Laogai Haft verurteilt. Seine Mutter kontaktierte Harry Wu, der sich zu diesem Zeitpunkt als Menschenrechtsaktivist in Washington einen Namen gemacht hatte.
Gemeinsam starteten sie einen Prozess gegen Yahoo!. Der Anwalt des Internetriesen, Michael Callahan, sagte vor dem Congress aus: „Ich kann von meinen Mitarbeitern vor Ort nicht verlangen, sich den Gesetzen eines Landes zu widersetzen – auch wenn ich persönlich diese Gesetze nicht gut heiße.“ Der Ausschussvorsitzende Tom Lantos kommentierte dies: „Technologisch und finanziell mögt ihr Riesen sein, doch moralisch seid ihr kleine Zwerge.“ Harte Worte – doch ein Urteil blieb aus. Yahoo! Einigte sich mit Shi Taos Mutter außergerichtlich – sie erhielt eine Abfindung in unbekannter Höhe. Kurz nach dem Urteil, im Jahr 2008, gründete Yahoo das „Yahoo Business and Human Rights Program“. Harry Wu und die Laogai Research Foundation erhielten eine großzügige Spende, die den Bau eines Museums in Washington, DC, ermöglichte.
Wie viel genau will Harry Wu nicht sagen, auf die Frage nach dem genauen Betrag antwortet er nur „über 10 Millionen Dollar“ – und nimmt einen Schluck Tee aus einer Tasse, die das lila Logo des Internetkonzerns aufgedruckt hat. Bei der Eröffnung des Laogai Museums waren zwei führende Personen des Unternehmens anwesend, der CEO Jerry Yang hatte sich für einen Auftritt wenig später angekündigt. In der Pressemeldung zur Eröffnung des Museums dankte Harry Wu dem Yahoo! Human Rights Fund, ohne dessen Hilfe der Bau des Museums wohl nicht möglich gewesen wäre. Gute Presse für den Internetriesen, während Shi Tao zur selben Zeit in einem Arbeitslager in China saß. 2013 kam der Journalist frei, das Land verlassen darf er jedoch nicht.
"Keep up the good work"
Das Gefühl einer Doppelmoral kommt auf, ein gewisser Opportunismus der westlichen Welt, stets begleitet vom erhobenen Zeigefinger gegen die bedauernswerte
Menschenrechtssituation. „Menschenrecht“ scheint doch nur ein abstrakter Begriff, der sich zwar gelegentlich manifestiert, doch in seiner Brisanz nicht die Vorzüge der Stabilität in wirtschaftlichen Dingen überbieten kann. Die Bilder, die die Zustände der menschenverachtenden Unterdrückung in China dokumentieren, befinden sich schließlich weit weg – in einem unscheinbaren Museum in Washington, dessen Mitarbeiter aus Yahoo Tassen trinken.
Harry Wu erzählt, er habe Barack Obama bei einem Treffen einen Bildband und ein Buch über die Laogai-Situation in die Hand gedrückt. Wochen später sei ein Dankesschreiben gekommen, unterzeichnet vom Präsidenten persönlich. „Keep up the good work“, stand angeblich darin – ein „leerer Brief“, wie Harry Wu findet. „Ich würde ihn gern fragen: Was ist dir wichtiger, wirtschaftliche Macht oder Menschenrechte?“ Eine Frage, die sich Harry mit einem Blick auf seine Kaffeetasse wohl selbst beantworten kann.