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Kanibalismus

Mythos Menschenfresser

Autor(en): Maria Stöhr am Samstag, 21. Februar 2015
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Quelle: Hans Staden

Wahrscheinlich müssen die Kochbücher der Kannibalen neu geschrieben werden

Einigen werden sie bekannt vorkommen: Karikaturen von Menschen in Lendenschurz, die um einen überdimensionierten Suppentopf tanzen, in dem einer ihrer Gefangenen vor sich hin köchelt. Sofort leuchten Bilder im Kopf auf, wenn wir an Menschenfresser denken. Obwohl das Verspeisen der eigenen Spezies zu einem absoluten menschlichen Tabu zählt, können sich viele die Existenz von Kannibalen durchaus vorstellen. Aus ethnologischer Sicht müssen solche Thesen heute stark angezweifelt werden. Doch warum konnte sich das Klischee Kannibalismus so sehr in den Köpfen der Menschen festsetzen?

Die Spuren der Kannibalen sind historisch verankert

Will man die Spur der Menschenfresserei verfolgen, muss man bereits bei antiken Kochtöpfen den Deckel heben, gefolgt von denjenigen des Mittelalters und der Entdeckerzeit. Diese historischen Quellen haben dazu beigetragen, dass sich das Klischee in der europäischen Geisteswelt festsetzen konnte. In der griechischen Mythologie berichtet Homer vom einäugigen menschenfressenden Monster Polyphem, der die Reisebegleiter des Odysseus gefangen nimmt und schließlich verzehrt.

In den Berichten des Geschichtsschreibers Herodot tauchen die sogenannten Anthropophagen (griech.: anthropos=Mensch; phagein=essen) auf. Und Alexander der Große schreibt auf seinen Eroberungsfeldzügen in unbekannte Gebiete über fremde Völker: „Ihre Gesichtszüge sind wild, ihre Augen zornerfüllt, ihre Hände räuberisch, ihre Zähne blutrünstig und ihre Kehlen sind jederzeit bereit, Menschenfleisch zu verschlingen und Menschenblut zu saugen“.

Kannibalen am anderen Ende der Welt

In der Entdeckerzeit erleben die Berichte über Menschenfresserei eine weitere Blütezeit. Kolumbus, Amerigo Vespucci oder Hans Staden führten mit ihren Tagebüchern über unbekannte Gebiete in Übersee die Bestsellerlisten der frühen Neuzeit an. Das Buch des hessischen Söldners Staden über seine Gefangenschaft bei den Tupinambà in Brasilien zählt zu den Klassikern der frühen Reiseliteratur. Sein Titel „Wahrhaftige Historia“ postuliert Echtheitsanspruch.

Für die Ethnologin Dr. Veronika Ederer ist klar, dass man sehr kritisch an solche Quellen herangehen muss. Übersetzungsprobleme, ein Kulturschock in der Fremde und Unwissen spielten bei den Autoren eine Rolle. Oft waren auch Prahlerei, Geschäftstüchtigkeit und ganz bestimmte Ziele damit verbunden. Wenn die Menschen am anderen Ende der Welt so wild, barbarisch und gefährlich waren, dann durfte man sie in den Augen der Expediteure auch ausbeuten, bekämpfen und missionieren.

Klischee als Zurechtlegung des Unbekannten

Das Klischee Kannibalismus beruht laut Veronika Ederer sehr darauf, „dass man es gruselig, abstoßend findet. Jedenfalls gehört es nie zur eigenen Kultur. Die Menschenfresser sind etwas, das nicht-regelkonformes Verhalten innerhalb einer Gesellschaft darstellt. Es ist der Horrorgrusel, das Fremde.“ Dieser Horrorgrusel verkauft sich auch heute noch in Büchern, Filmen und im Sensationsjournalismus gut. Es ist wie bei anderen Klischees. Sie sind eine Vereinfachung der Welt und entstehen durch Nichtwissen und mangelnde Differenzierung. Hartnäckigkeit zeichnet sie aus, weil sie meist schon historisch begründet sind.

Ausgeschlossen ist es nicht, dass es irgendwann irgendwo einmal eine Art rituellen Kannibalismus gegeben hat. Der Mythos Menschenfresser ist allerdings eher eine Kopfgeburt. Und ein Beispiel dafür, wie leichtfertig und vereinfachend wir mit dem Fremden umgehen. Es lohnt sich, ab und zu nachzusehen, was bei den vermeintlich Fremden wirklich in der Suppe schwimmt.

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