Mit der Konsole gegen die Krankheit
Xbox statt Tabletten
Die Medizin hat die Spielkonsole entdeckt: Wie Videospiele gegen Gehirnerkrankungen helfen.
Die Medizin hat die Spielkonsole entdeckt: Wie Videospiele gegen Gehirnerkrankungen helfen.
Kranke Kinder bekommen meist keine leuchtenden Augen, wenn ihnen der Arzt die neue Therapie vorstellt. Anders im Uniklinikum Tübingen: Statt Tabletten und Physiotherapie standen dort für zehn junge Patienten Videospiele auf dem Programm – und zwar an der bewegungsgesteuerten Konsole Xbox Kinect. Die Kinder leiden an degenerativer Ataxie. Bei dieser seltenen Erkrankung baut sich das Kleinhirn, das Koordinationszentrum unseres Gehirns, selbst ab. Für die Patienten bedeutet das: wackelige Bewegungen, ein unsicherer Gang, ein Leben im Rollstuhl oder Bettlägerigkeit. Physiotherapie scheitert hier oft, die Sitzungen sind meist zu kurz, um Erfolg zu zeigen. Doch je mehr sich die Patienten bewegen, desto besser. Gefragt war also eine Therapie, die motiviert. Was klingt da für ein Kind besser als Nachmittage lang Videospielen?
Zwölf Wochen Videospielen machen zwei Jahre Krankheit wett
Das erstaunliche Ergebnis: Nach einigen Wochen Training hatten sich Beweglichkeit und Koordination der Patienten stark verbessert. „Die Kinder waren begeistert“, sagt Forschungsgruppenleiter Dr. Matthis Synofzik. „Sie sind nicht nur Opfer der Erkrankung, sondern können aktiv damit umgehen.“ Die Therapie ist mit Kosten von 200 Euro relativ günstig, sie macht Spaß und lässt sich problemlos zu Hause durchführen. Außerdem simuliert sie Bewegungen unter lebensnäheren Bedingungen als bei der Physiotherapie – „eine spannende Ergänzung also“, so der Neurologe. Bis jetzt ist die Krankheit zwar noch immer unheilbar. Doch die Therapie hilft, den Abbau des Kleinhirns hinauszuzögern.
„Nicht einfach irgendein Computerspiel“
Die Kinder mit einem x-beliebigen Computerspiel ins Kinderzimmer zu schicken, hat hingegen keinen Sinn. „Das überfordert sie möglicherweise“, warnt Dr. Synofzik. Ist das Spielniveau nicht an die Krankheit angepasst, könne das die Kinder frustrieren. Tipps bekommen sie in der ersten Übungsphase im Krankenhaus von Sporttherapeuten, dann geht es zum Training nach Hause. Auch die Art des Spiels ist entscheidend: Bei degenerativer Ataxie haben die Wissenschaftler bewusst Spiele verwendet, bei denen der ganze Körper zum Einsatz kommt. Die Kinder erwartete etwa ein schnelles Tischtennisduell oder sie sollten mit Ausfallschritten Lecks in einem Tank abdichten. „Desto mehr die Kinder trainiert haben, desto stärker haben sie sich verbessert“, sagt Dr. Synofzik.
Neue Behandlungschancen für andere Erkrankungen?
Momentan wird die Therapie nur bei degenerativer Ataxie getestet. Doch Dr. Synofzik ist optimistisch: „Wir glauben, dass Videospiele ein sinnvolles Therapieinstrument für eine Vielzahl neurologischer Erkrankungen sind“. Vielleicht hilft die Spielkonsole auch gegen weitaus häufigere Erkrankungen wie etwa Schlaganfall. Die sind nämlich leichter zu behandeln: „Die ‚Hardware Kleinhirn‘ erhält dabei nur einmal einen Schlag, wird nur einmal beschädigt“, erklärt Dr. Synofzik. Bei der degenerativen Ataxie baut sich das Kleinhirn dagegen fortlaufend ab – für Ärzte ein Albtraum. „Wenn die Therapie also hier wirkt, dann wird sie bei anderen Erkrankungen erst recht wirken!“ Ein Hoffnungsschimmer etwa für Patienten mit Multipler Sklerose – einer Krankheit mit ähnlichen Bewegungsstörungen. Vielleicht heißt es in Zukunft auch für sie „Videospielen auf Rezept“.