„Aus dem Leben eines Amokläufers zu erzählen, ohne ihn nur einmal zu zeigen, das ist schon stark!“, so Hauptdarsteller Friedrich Mücke
Amoklauf ohne Täter
Keine sichtbaren Toten, kein dramatischer Polizeieinsatz – trotzdem ist „Staudamm“ ein Drama, das sich ausschließlich mit einem Amoklauf beschäftigt! Und noch dazu ein ziemlich gutes.
Keine spannenden Schussszenen, keine sichtbaren Toten, kein dramatischer Polizeieinsatz – und trotzdem soll „Staudamm“ ein Drama sein, das sich mit einem Amoklauf beschäftigt? Ja – und noch dazu ein ziemlich gutes.
Im Fokus stehen die Nachwirkungen: Wie lebt ein Dorf nach so einem Blutbad weiter? Wie lässt sich das aufarbeiten? Und: Wie konnte es überhaupt soweit kommen? „Was mich besonders interessiert hat, ist, wie die Medien und die Gesellschaft mit so einer Tat umgehen, wenn sie einmal passiert ist“, erklärt Regisseur und Drehbuchautor Thomas Sieben. Gesellschaftskritik schwingt im Film auf mehreren Ebenen mit: an der Mediengesellschaft, dem Umgang mit Hinterbliebenen durch die Öffentlichkeit und der Bürokratie.
Voyeure sind hier fehl am Platz
Den Film haben Sieben und Co-Drehbuchautor Christian Lyra unter Anderem in Erinnerung an die Amokläufe in Winnenden 2009 und Erfurt 2002 gedreht und Originalakten verwendet. Die Fragen ‚Was genau ist passiert?’ und ‚Wie ist die grauenvolle Tat abgelaufen?’ treten in ihrem Werk in den Hintergrund. Der Amoklauf selbst und sein Täter sind nämlich nie zu sehen, aber dafür immer spürbar. Die eigentliche Handlung ist in „Staudamm“ immer eine Schicht tiefer als das Sichtbare.
Wer bei dem ruhigen Drama mit reduziertem Erzähltempo erwartet, dass der Film langweilig werden könnte, liegt aber falsch. Gerade auf diese Art entfaltet er seinen Effekt: zu beeindrucken, zu bedrücken und zum Nachdenken anzuregen. Unterstützt wird das beklemmende Gefühl durch die reduzierte Filmmusik – sowohl durch ihre An- als auch Abwesenheit in bestimmten Momenten – und die kühlen Farben. Die Kälte der tristen Winterlandschaft im Film spürt man förmlich durch die Ritzen der Häuser kriechen.
Amoklauf aus den Augen eines Außenstehenden
Effektheischend auf die Tränendrüse gedrückt wird in dem deutschen Kinodrama dagegen überhaupt nicht. Man behält einen distanzierten und reflektierten Blick auf das Geschehen. Das liegt vor allem an der originellen indirekten Perspektive, die die Hauptfigur Roman einnimmt.
„Roman ist ein Einzelgänger, der sich für nichts richtig begeistern kann. Nicht mal seine Freundin interessiert ihn wirklich. Er ist vollkommen antriebslos, schafft es mit seinem Nebenjob so gerade, dass er das Geld für die Miete reinbekommt“, erzählt Hauptdarsteller Friedrich Mücke (Erfurter Tatort, „Friendship“) über seine Figur im Film.
Von München in die winterliche Provinz
Über seinen drögen Aushilfsjob kommt Roman mit dem Amoklauf in einem Provinzgymnasium in Kontakt. Für einen Staatsanwalt digitalisiert der Mitzwanziger dessen Akten zum Fall. Teilnahmslos liest er die Zeugenaussagen und Polizeiberichte ein. Die vorgetragenen Dokumente sind eine Mischung aus Originaltexten von Amokläufern, Gerichtsakten sowie einigen fiktiven Ergänzungen.
Die für Roman farblosen Worte aus den Dokumenten bekommen erst einen Anstrich, als er zum Tatort reist. Um die letzten fehlenden Akten zu bekommen, muss der Münchner nämlich zu den Behörden vor Ort im Alpendorf fahren – weg aus der Großstadt.
Das Mädchen hinter den Akten
„Hast du was zu kiffen?“, ist der erste Satz, mit dem Laura ihn anspricht. Laura: ein Mädchen, das die betroffene Schule besucht und den Amoklauf hautnah miterlebt hat. Sie haucht dem abstrakten Fall plötzlich Leben ein und zeigt Roman, was hinter den Akten steht. Die behutsame Liebesgeschichte zwischen den beiden tritt aber in den Hintergrund. „Der Film erzählt ja nicht nur vom Aufeinandertreffen von Roman und Laura, sondern vielmehr von einer Dreiecksgeschichte. Der Amokläufer ist zwar tot, aber trotzdem permanent als unsichtbare dritte Person zwischen den beiden anwesend,“ erklärt Hauptdarstellerin Liv Lisa Fries („Die Welle“).
Zwei-Personen-Stück mit grandiosen Nachwuchsdarstellern
Nicht nur inhaltlich ist „Staudamm“ sehr fokussiert und reduziert, sondern auch in seiner Besetzung. Die Geschichte des traumatisierten Dorfes wird erzählt, ohne dass man viele Menschen sehen würde, die darin leben. Liv Lisa Fries und Friedrich Mücke bestreiten als Laura und Roman fast den ganzen Film alleine und überzeugen dabei auf ganzer Linie. Besonders die 23-jährige Hauptdarstellerin sollte man sich im Kopf behalten. Für ihre Rolle in „Und morgen Mittag bin ich tot“ (Kinostart: 13.02.2014) wurde Liv Lisa Fries erst vor kurzem beim Bayerischen Filmpreis als beste Nachwuchsdarstellerin ausgezeichnet.
Harter Tobak statt deutschen Komödien
Auch Friedrich Mücke hat den Preis bereits erhalten – damals für seinen Auftritt in „Friendship“ an der Seite von Matthias Schweighöfer. In „Staudamm“ beweist Mücke endlich, dass er abseits von den typischen Schweighöfer-Komödien (auch in: „Russendisko“, „What a Man“) auch für ernstere Rollen geeignet ist. Als Schauspieler am Volkstheater in München hat er das schon oft unter Beweis gestellt und nun auch auf der deutschen Kinoleinwand.
Klischeefrei und intensiv
Packend ist spätestens der Moment, wenn er mit ganz anderer Stimme als zuvor bei den Gerichtsakten aus dem Tagebuch des Amokläufers liest. Atemlos hört man den eindringlichen Worten zu, den Gedanken eines Mörders und 18-jährigen Jungen über seine Welt und die Gesellschaft. Dabei halten sich die Filmemacher aber zum Glück fern von der Klischeekiste. Der Täter war kein klassischer Einzelgänger oder Ego-Shooter-Süchtling und von seiner Familie misshandelt wurde er auch nicht. Aber was bringt so einen Jungen dazu, bis ins Detail ein Blutbad an seiner Schule zu planen? Die Antwort liefert der Film. Einen Erklärungsversuch am Ende konnten sich die Autoren nämlich doch nicht verkneifen.