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Das Revival eines Genres

"Coming of Age" ist zurück!

Quelle: © 2000-2014 Internationale Münchner Filmwochen GmbH

„Living Is Easy With Eyes Closed“ – der vielleicht beste Coming of Age-Film am Filmfest.

Der Jugendfilm ist zurück im Qualitätskino! Das beweist das internationale Filmfest München 2014. Ein Ländervergleich.

Der Jugendfilm ist zurück im Qualitätskino! Das beweist das internationale Filmfest München 2014. Hier werden jede Menge Coming of Age-Filme verschiedenster Herkunft präsentiert, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Ein Ländervergleich.

„City of God“, „Kids“ oder „Dreizehn“: Um die Jahrtausendwende war die Zeit des großen Coming of Age-Kinos. Die Welt ihrer jugendlichen Helden dreht sich um Drogen, Sex und Kriminalität. Sie probieren sich aus, schlagen über die Stränge und erleben vieles zum ersten Mal – verständlich, dass diese intensive Zeit auch gern als Filmstoff benutzt wird.

Jetzt könnte das Genre ein internationales Revival erleben, denn Filme über Jugend und Erwachsenwerden boomen wieder. Der letzte Hype um „Boyhood“, das 12-Jahres-Projekt von Richard Linklater, ist noch nicht abgeklungen, da wartet schon das Filmfest München 2014 mit einem entsprechenden Programm auf. In sämtlichen Reihen und aus den verschiedensten Herkunftsländern sind Coming of Age-Filme am Filmfest vertreten.  Das neue Jugend-Kino erzählt aber nicht mehr nur von einer exzessiven, verlorenen, und perspektivlosen Jugend, sondern von ganz unterschiedlichem Alltag. Coming of Age ist erwachsen geworden.

Generationenclash im Neuen Deutschen Kino

Am präsentesten ist der Coming of Age-Film im Neuen Deutschen Kino. Ganz undeutsch wird hier der Zugang mit Humor gesucht.

So dreht „Wir sind die Neuen“ den Spieß um und stellt einer pflichtbewussten Spießer-WG drei Alt-68er als WG-Nachbarn gegenüber. Das führt in traditionell-cineastischer Logik zu einer Menge lustiger Situationen zwischen den Studenten von damals und heute. Am köstlichsten amüsiert man sich in diesem Generationen-Clash über Gisela Schneeberger, Heiner Lauterbach und Michael Wittenborn als verrückte Rentner-WG. Und ausgerechnet die kann vielleicht den jungen Nachbarn beim Erwachsenwerden helfen.

„Wir haben quasi alles unternommen, um Hip Hop zu hören!“

Während „Wir sind die Neuen“ es als pointierte, kurzweilige Komödie schafft, zu unterhalten, schießt „Dessau Dancers“ übers Ziel hinaus. Der Tanzfilm ist so überspitzt, dass er ins Klischeehafte abrutscht, und leider können die mittelmäßigen Schauspieler hier auch nichts mehr retten. Thema ist die Breakdance-Bewegung der DDR, die Regisseur Jan-Martin Scharf an seine eigene Jugend im Westen erinnert.

„In dieser Zeit haben wir quasi alles unternommen, um Hip Hop zu hören“, erzählt er im M94.5-Interview. „Und da war dann ganz schnell immer die Frage: Ist man Straße – so richtig Bronx – oder nicht? Später ging derselbe Konflikt dann weiter, der hieß dann Kunst vs. Kommerz. Als ich dann gehört hab, dass sich dieselben Kämpfe ähnlich – aber ganz anders vor dem politischen Hintergrund – in der DDR abgespielt haben, hab ich gedacht, dass diese Frage plötzlich eine andere Existentialität bekommt.“

Einen Spielfilm wert ist das Underdog-Thema in jedem Fall, die Gratwanderung zwischen Selbstverwirklichung und Instrumentalisierung durch die SED ist durchaus spannend. Weil „Dessau Dancers“ aber ein Tanzfilm ist, wollte Jan-Martin Scharf die Geschichte „einen Meter über dem Boden“ erzählen. Das Ergebnis: vorhersehbare Handlung, eindimensionale Charaktere und tiefe Griffe in die DDR-Klischeekiste.

„Behinderte leben in irgendeiner Welt, aber nicht in deiner.“

Ganz anders interpretiert wird der Coming of Age-Film in „Be My Baby“. Er beschreibt einfühlsam das Erwachsenwerden von ungewöhnlicheren Protagonisten – solchen mit Down-Syndrom. Dabei teilte die gesamte Filmcrew dasselbe Motiv, wie Regisseurin Christina Schiewe erklärt: „Normalerweise hat man ja nicht so viel zu tun mit behinderten Menschen. Die leben ja in irgendeiner Welt, aber nicht in deiner. Aber umso mehr man sich damit beschäftigt, ist es auch mir immer mehr zu einem Herzensthema geworden, diesen Menschen eine Stimme zu geben.“

Eine Stimme verleiht die Regisseurin in ihrer Tragikomödie auch bei sehr heiklen Fragen wie Sexualität und Mündigkeit, an die sich bisher kaum jemand herangetraut hat. Sie hält dem Zuschauer den Spiegel vor und zeigt, dass „normal sein“ immer im Auge des Betrachters liegt.

Ungeschminkte Scheidung

Neben den deutschen Produktionen finden sich am Filmfest besonders unter den International Independents eine Reihe von Coming of Age-Filmen. Im russischen Drama „Another Year“ räumt Regisseurin Oksana Bychkova mit den Klischees des Kinos aus ihrem Land auf. Ihr Film ist nicht düster und thematisiert weder Korruption, Gewalt noch Armut. Stattdessen entwirft sie ein persönliches Portrait eines jungen Moskauer Pärchens mit ungewohnt fröhlichen Momenten – auch wenn es eigentlich „die Geschichte einer Scheidung“ ist, so Bychkova.

Aus der ausländischen Perspektive sind vor allem die Einblicke ins ungeschminkte Alltagsleben der Moskauer Jugend spannend: Welche Musik sie hören, wie sie wohnen und welche Sorgen sie plagen. Man merkt: Die Geschichte der zerbrechenden Liebe kann jeder nachfühlen – aber die Kultur, in die sie eingebettet ist, ist eine andere.

Stille Liebe

Wiederum aus einem ganz anderen Kulturkreis kommt „L’Armée du Salut“. Das marokkanische Drama zeigt in ruhigen Bildern und langen Einstellungen das Leben eines jungen Homosexuellen in Nordafrika. Durch die ausschnitthaften, situationsbeschreibenden Momente lernt man den Protagonisten verstehen: Wie ist es, im islamischen Marokko schwul zu sein und heimlich seinen Bruder zu lieben? Wie funktionieren afrikanische Familien hinter geschlossenen Türen?

Indie-Independent ist in

Während „L’Armée du Salut“ mit Kamera- und Erzählführung experimentiert, bleibt „Palo Alto“ in bekannten Gewässern. Die US-Produktion ist am Filmfest München der einzige Fall von klassischem Coming of Age-Kino, von dem man schon viele gesehen hat – und das ausgerechnet in der innovativen Independent-Reihe. Basierend auf der gleichnamigen Kurzgeschichtensammlung von James Franco schafft Gia Coppola ein nachdenkliches Portrait der heutigen Highschool-Jugend. Es geht um Mädchen, die nach Liebe, und Jungen, die nach Ärger suchen. Alkohol- und Drogenexzesse, Kollision mit dem Gesetz  und Sex kommen also nicht zu kurz. Sehenswert ist der Film am ehesten wegen besonderer Kameraeinstellungen, gutem Soundtrack und der großartigen Emma Roberts. Mit seinem Cast ist die US-Produktion auch wieder einmal ein Beweis dafür: Amerikanische Schauspieler, die etwas auf sich halten, spielen nicht mehr in den Hollywood-Blockbustern mit, sondern in Indie-Produktionen. Independent ist „in“.

Die weiße, reiche Seite Südamerikas

In ihrer eigenen beschränkten Welt lebt auch die Familie aus „Casa Grande“ (CineVision-Reihe). Der brasilianische Spielfilm thematisiert nicht Armut und Leben in den Favelas, wie es lateinamerikanisches Kino sonst gerne tut. Stattdessen will er mit der Geschichte über Zerfall einer reichen südamerikanischen Familie überraschen. Für Felipe Gamarano Barbosa ist sein erster Spielfilm sehr persönlich: „[Der Film] zeigt die Welt, in der ich aufgewachsen bin und aus der ich zu entfliehen versuchte“, so der Regisseur. Diese Flucht verarbeitet er auch im Film. Nur verliert er sich dabei bis auf einige Diskussionen über die Spanne zwischen arm und reich, weiß und schwarz weitestgehend in der Bedeutungslosigkeit.

Auf den Spuren von John Lennon

Der vielleicht beste Coming of Age-Film am Filmfest München 2014 spielt in der Vergangenheit. Die Komödie „Vivir Es Fácil Con Los Ojos Cerrados“ (auf englisch: „Living Is Easy With Eyes Closed“, CineMasters-Reihe) begibt sich auf eine Reise durch das Spanien der 60er. In dem Roadmovie machen sich ein jugendlicher Ausreißer, eine schwangere junge Frau und ein Lehrer auf die Suche nach John Lennon. Der Lehrer ist nämlich sein größter Fan und das Idol dreht gerade den Film „How I won the War“ in Francos Reich. Damit bricht der Film als einziger mit dem Alltagsmotiv. Die Protagonisten suchen neben John Lennon eigentlich auch sich selbst und Auswege aus dem bedrückenden Alltag. Regisseur David Trueba schafft ein einfühlsames, erheiterndes Portrait der Jugend in einer Diktatur, und nicht zuletzt eines liebenswerten Lehrers.

Jugend ohne Grenzen

Alle fünf Kontinente stellen auf dem Filmfest Coming of Age-Filme vor und es überrascht wenig, dass das Thema „erwachsenwerden“ Im Kino grenzüberschreitend thematisiert wird. Dabei wird nicht verglichen, die Filme beziehen sich nur auf ihre Zeit, ihr Land und letztlich sich selbst – und machen sich damit ihren Protagonisten gleich. Gerade im Vergleich werden die Filme aber spannend – ein Mosaik verschiedener Egozentren nur erkennbar für den Zuschauer . Dadurch hilft der neue Coming-of-Age-Boom auch zu begreifen, was es heißt, „erwachsen“ zu sein: die Möglichkeit, die Geschichten anderer mit demselben Auge zu sehen wie die eigenen.

Bildergalerie
„Dessau Dancers“: DDR-Breakdance voller Klischees.
Das kühle Moskau ist die Kulisse in „Another Year“.
Das Leben mit Trisomie 21 in „Another Year“.
Behütete, reiche Welt in Südamerika: „Casa Grande“.
„Palo Alto“ verfilmt James Francos Kurzgeschichten – und er selbst spielt auch mit.
Heimliche Bruderliebe in „L’Armee du Salut“.
„Wir sind die Neuen“: Die Darsteller am roten Teppich bei der Weltpremiere.
Platte des Monats

Conor O'Brien zeigt mit The Art of Pretending to Swim, dass Indie-Folk auch im Jahr 2018 noch spannender klingen kann, als man das von diesem Genre erwartet hätte. Das vierte Album der Villagers vereint, was eigentlich widersprüchlich wirkt: Folk mit R'n'B und Experimentierfreude mit Zugänglichkeit. 

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