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Auf einen Kaffee mit C. Bernd Sucher

Die Meinung rauströten

Autor(en): Marie Schoess am Donnerstag, 16. Dezember 2010

Kulturkritik der Feuilletons ist vielseitig: Mal giftig, mal aufbauend, mal unterhaltsam, mal selbstdarstellerisch- aber immer ist sie machtvoll. C. Bernd Sucher gehört zu den deutschen Kritikerpäpsten, die im Auftrag des gehobenen Kulturpublikums auf Streifzug gehen in Theatern und Opernhäusern, auf der Suche nach… ja, was eigentlich? M94,5 hat nachgeforscht: In seinem Wohnzimmer.

C. Bernd Sucher zählt zu den renommiertesten Kritikern im deutschsprachigen Raum. Der langjährige Redakteur für Sprechtheater bei der Süddeutschen Zeitung nimmt Lehraufträge an der Deutschen Journalistenschule und der Bayerischen Theaterakademie August Everding wahr und arbeitet gelegentlich fürs Fernsehen. Außerdem steht er mit seiner Vortragsreihe „Suchers Leidenschaften“ seit 2000 regelmäßig selbst auf der Bühne.

Hannah Schopf hat den Tausendsassa für euch in seiner Altbauwohnung am Prinzregentenplatz besucht.


M94.5 Herr Sucher, wenn wir über Kritik sprechen, wie sie im Feuilleton zu lesen ist – über was für ein Genre sprechen wir da? Und wo liegt überhaupt dessen Berechtigung?

C. B. Sucher Also, die Berechtigung dieses Genres ist, dass der Kritiker für die Zuschauer spricht und sozusagen ein Vertreter des Publikums ist. Was ihn unterscheidet vom Publikum ist, dass er im besten Fall ein bisschen intelligenter ist, mehr gesehen hat und mehr Erfahrung hat und besser schreiben kann. Das Genre ist aufgekommen, weil das Bürgertum eine Stimme haben wollte bei der Kunstproduktion. Früher war das ja alles der Adel und so, die machten das alles unter sich aus. Und plötzlich hat das Bürgertum gesagt, ok, wir geben das Geld dafür – weil es plötzlich subventionierte Theater gab – dann wollen wirs auch, nicht kontrollieren, aber doch eine Meinung dazu haben.

M94.5 Wenn Sie als Kritiker jetzt in einem Theaterstück sitzen, wie nehmen Sie dann die Inszenierung wahr? Welche Kriterien legen Sie an?

C. B. Sucher Die Kriterien für die Kritik ergeben sich aus dem Gegenstand selber. Es wäre also völlig bescheuert, einen Katalog zu haben, wann etwas gelungen ist und wann nicht. Weil, wenn Sie in eine Operette gehen und erwarten Faust II, müssen Sie enttäuscht sein. Also der Gegenstand selber fordert seine Maßstäbe, das heißt: Der Kritiker muss ohne Vorurteile – falls das möglich ist – in so eine Aufführung gehen und sich überlegen, welche Maßstäbe dieser Abend braucht. Und ob sein Denken nicht verhindert, das offen wahrzunehmen! Also, ganz billiges Beispiel: Wenn man in Romeo und Julia geht und hat sich gerade von seinem Partner getrennt, dann wird man das anders finden, wie wenn man gerade frisch verliebt ist. Das hat also auch was mit Befindlichkeiten zu tun. Aber letztendlich gilt: Die Maßstäbe ergeben sich durch den Gegenstand.

M94.5 Was Sie gerade ja auch schon angesprochen haben, ist die Subjektivität des Kritikers. Wenn man jetzt von einer subjektiven Wahrnehmung ausgeht, ist objektive Kritik dann überhaupt möglich? Oder muss man nicht den Verdacht im Hinterkopf behalten, dass einem, wenn man eine Inszenierung schlecht findet, vielleicht einfach der Zugang dazu fehlt?

C. B. Sucher Klar! Beispiel: Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich mit Nestroy und Raimund Stücken, also dem alten Wiener Volksstück, überhaupt nichts anfangen kann. Also wer auch immer das inszeniert hat, ich fand das fürchterlich! Und dann hab ich irgendwann kapiert, das hat ganz viel mit mir zu tun- und ganz wenig mit Nestroy und Raimund! Und dann hab ich gesagt, ok, ich bin der falsche Mann für diese Stücke: Ich bespreche sie einfach nicht mehr. Die Subjektivität, was den Rezipienten angeht, der muss sich sozusagen seinen Kritiker suchen. Also, das Wichtigste ist eigentlich, dass man einen findet, von dem man weiß, wenn der das gut findet, find ich das auch gut und wenn der das schlecht findet, find ich das auch schlecht.

M94.5 Das Paradoxe daran ist ja, dass Beiträge von renommierten Kritikern wie Ihnen von den Lesern dann eben doch als objektive Urteile, fast schon Qualitätssiegel wahrgenommen werden. Machen Sie sich beim Schreiben dieses Missverständnis bewusst, gehen Sie damit irgendwie um?

C. B. Sucher Ich denke nicht beim Schreiben daran, wie kann ich missverstanden werden. Ich denke beim Schreiben an keinen Leser. Deswegen ist es so seltsam, dass es Kollegen gibt, die sagen, sie schreiben in der "Bunten" anders als in der "SZ", oder bei "Theater Heute" anders als in der "Abendzeitung".


M94.5 Dient eine Feuilletonkritik auch als Selbstdarstellungsplattform?

C. B. Sucher Ganz Stark! Natürlich versteht sich ein Kritiker auch als Autor. Ab der SZ wollte ich, dass meine Kritiken irgendwann als Sammelbände rauskommen, dass das Bücher werden. 100 Jahre nachdem die Menschen tot sind, kein Mensch weiß mehr, wer Peter Lühr ist, stößt man auf eine Kritik von mir und sagt, das muss ein traumhafter Schauspieler gewesen sein. Viel besser als mit Video kann man Aufführungen rekonstruieren über Kritiken, also Geschriebenes, als über eine Kamera. Da bin ich ziemlich sicher. Viele meiner Kollegen verstehen sich als Journalisten und haben diesen Ehrgeiz nicht. Aber ich hatte diesen Ehrgeiz immer, dass ich Autor bin und dass ich auch schreiben kann, ohne, dass das Theater mir was bietet.

M94.5 Kritiker haben aber auch viel Macht im Hier und Jetzt. Tatsächlich werden Theaterkarrieren ja im Feuilleton gestartet und können dort auch beendet werden. Was gibt Ihnen überhaupt in diese Macht, wie kommt es dazu?

C. B. Sucher Also die Macht ist glaube ich viel kleiner, als sie jetzt gesagt haben. In der Provinz ist sie relativ groß: Wenn sie in Ulm für die Südwestpresse schreiben, haben sie innerhalb der Stadt und der Region relativ viel Einfluss. Aber überlegen Sie sich: Der Matthias Hartmann, der jetzt am Burgtheater ist- seit 15 Jahren knüppeln alle Kritiker gegen den. Und was passiert? Er wird Direktor des Burgtheaters, inszeniert bei den Salzburger Festspielen. Also ich bin ganz fest davon überzeugt, dass Schauspieler, Bühnenbildner, Regisseure ein weit größeres Nachleben haben als ihre Kritiker.

M94.5 Können Sie sich die Leser vorstellen, deren Lieblingskritiker Sie sind? Was sind das für Menschen?

C. B. Sucher Meine Leser oder die, die in die Leidenschaften kommen, das sind Menschen, die - behaupte ich mal - erstens leidenschaftlich sind, die sich nicht als Intellektuelle darstellen, also sie sind nicht dumm, aber sie haben nicht immer dieses Schild um, auf dem steht: Ich habe Kant gelesen und kenne auch Focault! Die sind wahrscheinlich mir nicht unähnlich, also so eine Selbstironie, sich selber auf die Schippe nehmen, das ist das, was die auch an meinen Texten gut finden. Es gibt auch eine Dissertation über meine Schreibe sozusagen und da kommt dann eben auch raus, dass ich nie mit Fremdworten arbeite – also ich toleriere sie natürlich. Ich wechsele nicht zwischen langen und kurzen Sätzen, ich mache extrem kurze Sätze und schummle mich nie um eine Meinung rum. Also sie werden kein großer Kritiker, wenn sie sich immer so im Mittelfeld bewegen, sie müssen auch mal konsequent ins Fehlurteil!

Also Reich-Ranicki ist was geworden, weil er gesagt hat, also dieses Buch zerreiß ich jetzt mal, auch wenn es ihm zwei Jahre später vielleicht leid tut. Also du musst ne Meinung haben und die Meinung musst du auch rauströten sozusagen


M94.5 Ist das auch ein Tipp für junge, aufstrebende Journalisten? Wer in diesem Genre erfolgreich sein will- sollte er sich eher an der etablierten Meinung (also der der Kritikerpäpste) orientieren oder seinen eigenen Kopf durchsetzen?

C. B. Sucher Ich hab immer auf Risiko gearbeitet. Ich habe gegen meinen Chefredakteur in der "Schwäbischen Zeitung", da habe ich angefangen, eine Bayreuth-Aufführung schlecht gefunden, die er ganz toll fand. Das war in meiner Probezeit und hätte ganz, ganz schief gehen können. Und das Glück war dann, das Kaiser sie auch schlecht fand! Also ich hab nie mir überlegt, bin ich jetzt im mainstream oder nicht. Das führte auch dazu, dass ich Regisseure gefördert habe, die meine Kollegen noch gar nicht gesehen haben und deshalb hab ich auch so eine Lust, dieses Radikal jung! - Festival in München zu machen. Weil es viel mehr Spaß macht, junge Leute zu entdecken, als irgendwie zum 500tausendsten mal zu sagen, dass Peter Stein gut oder schlecht ist. Das interessiert mich irgendwie einfach nicht.

M94.5 Allerletzte Frage. Was ist denn zur Zeit der C. Bernd Sucher-Tipp, was sollte man unbedingt gesehen haben?

C. B. Sucher Der C. Bernd Sucher-Schauspiel-Tipp ist "Angst", eine wunderbare Aufführung mit zwei wunderbaren Schauspielern in den Kammerspielen. Und der Operntipp ist, bitte - entgegen aller Kritiker, alle fanden das irgendwie fürchterlich, bis auf Beate Kaiser in der AZ - die intelligenteste, die schönste, die anrührendste Aufführung im Moment ist "Rusalka" an der Staatsoper – also wer das verpasst hat viel für sein Leben verpasst!

M94.5 Das ist doch ein schönes Schlusswort. Herr Sucher, vielen Dank für diese Tipps und vielen Dank für das Interview.


Wenn ihr noch mehr von C. Bernd Sucher hören wollt, unter anderem, wie Kritikerpäpste sich untereinander so kritisieren - sei es wegen Gummisohlen - dann schaltet heute Abend ein, bei


KUNO – das monatliche Themenmagazin auf M94,5

Am Donnerstag (16.12.2010) von 19 bis 20 Uhr


Diesmal: Die schwierige Kunst der Kritik.

Aus allen Blickwinkeln wird dieser Aspekt beleuchtet, vom Kritisieren übers Kritischsein bis zum Herumkritteln… Seid dabei!

Platte des Monats

Conor O'Brien zeigt mit The Art of Pretending to Swim, dass Indie-Folk auch im Jahr 2018 noch spannender klingen kann, als man das von diesem Genre erwartet hätte. Das vierte Album der Villagers vereint, was eigentlich widersprüchlich wirkt: Folk mit R'n'B und Experimentierfreude mit Zugänglichkeit. 

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M94.5 präsentiert
Donnerstag, 18. Oktober, 18 Uhr
M218 LMU Hauptgebäude
 
Munich Rocks!
Donnerstag, 18. Oktober 2018
 
Freitag, Samstag: 19./20. Oktober
 
Neuhauser Musiknacht
Samstag, 27. Oktober 2018
M94.5 Bühne @ Freiheizhalle

 

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