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Filmfest 2018

Ein Sommer im Dunkeln

Quelle: © Filmfest München 2018

Immer stilsicher mit Sonnenbrille unterwegs: Die Poster fürs Filmfest München.

10 Tage non-stop Kino mit Film-Highlights aus aller Welt: Am 28. Juni startet das diesjährige Filmfest München. Die kleine Vorschau zum Mitnehmen.

So ein Sommer im Kino birgt seine Vorteile: Wenn's draußen endlich richtig heiß wird, sitzen wir gemütlich mit Wassereis und Klimaanlage im Kinosessel. Ganz harte Arbeit also, die wir euch ersparen wollen. Deshalb gibt's die heißesten Tipps und größten Flops aus 185 Premieren täglich auf M94.5 - und zum Einstieg ein paar Schmankerl, falls ihr doch selbst mal ins kühle Dunkel fliehen wollt. Das geht vom 28. Juni bis zum 07. Juli.

Black Kite (Afghanistan/Kanada 2017)

Arian wird sterben. Das Schicksal des Protagonisten von “Black Kite“ ist von der ersten Minute an klar – dadurch fokussiert sich der Film auf die innere Handlung Arians und darauf, wie er bis zu diesem Punkt gelangt ist. „Black Kite“ beginnt mit der Verurteilung des afghanischen Mannes durch die Taliban. Sein Verbrechen: Drachensteigen. Aber die Drachen hier sind keine normalen Spielzeugdrachen aus Plastik und Papier, wie wir sie aus der Kindheit  kennen: Sie sind Kunstwerke aus Seidenpapier und Bambus, in gelb, grün, blau lila.

In der Nacht vor seiner Erhängung erzählt Arian seinem Zellengenossen seine Geschichte: Seine Kindheit ist geprägt von seinem Vater, einem Drachenbauer. Seine Leidenschaft für die bunten Papierdrachen gibt er früh an seinen Sohn weiter. Arian entwickelt eine Besessenheit von Drachen, die ihm zum Verhängnis wird. In Rückblenden aus der düsteren Zelle zeigt „Black Kite“ Arians Jugend bei seiner Familie, seine Heirat und den Tod seiner Frau. Schließlich bleibt Arian mit seiner jungen Tochter zurück, an die er seine Liebe zu Drachen weitergibt.

Der afghanische Filmemacher Tarique Qayumi macht die Papierdrachen zu einem Symbol für Freiheit, Rebellion und den Wunsch, der harten und brutalen Realität des Taliban-Regimes in Afghanistan zu entfliehen. Dargestellt werden die Drachen in farbenfrohen, animierten Sequenzen. Zudem werden immer wieder Originalaufnahmen von Afghanistan gezeigt, die die Geschichte des Landes erzählen von der friedlichen Monarchie, über die Russische Besatzung bis hin zum Taliban-Regime. Beeindruckend ist auch, dass Tarique Qayumi es schafft, die Brutalität der Taliban zu zeigen, ohne einen Tropfen Blut auf der Leinwand zu vergießen. Der Zuschauer fühlt die Gefahr, die Arian und seine Tochter eingehen, als sie ihren kleinen Akt des Widerstands ausüben: in der Neumondnacht ihren schwarzen Drachen fliegen. jm

„Black Kite“ läuft auf dem Filmfest dreimal, in der Reihe Spotlight.

Diamantino (Brasilien/Frankreich/Portugal 2018)

Er ist der perfekte Ronaldo-Verschnitt: Starspieler der portugiesischen Mannschaft, trägt Unterwäsche mit seinem eigenen Namen und schläft in Bettzeug, auf dem sein eigenes Gesicht prangt. Diamantino hat nur Fußball im Kopf, denn der ist eine Kunst für sich.

Als Diamantino im WM-Finale den entscheidenden Elfmeter verpatzt, geht es steil bergab mit seiner Karriere. Was folgt, sind neunzig sehr, sehr komische, aber auch ziemlich unterhaltsame Minuten. Geldwäsche, Geheimdienst, Gentechnik und Flüchtlinge sind nur ein paar der vielen Themen, die dieser Film anschneidet. Das führt zu ein wenig Überforderung beim Zuschauer, passt aber überaus gut in das Gesamtkonzept des Films. So skurril und absurd „Diamantino“ ist, so witzig ist er auch.

Auch wenn die Kameraführung anmuten lässt, dass das eine oder andere Mal kein Stativ zur Hand war, und auch die Effekte nach geringem Produktionsbudget aussehen, ist „Diamantino“ sehenswert. Und sei es nur, weil er sicherlich merkwürdig, aber damit eben auch außergewöhnlich ist. ah

„Diamantino” läuft auf dem Filmfest dreimal, in der Reihe CineVision (Wettbewerb).

Eye on Juliet (Kanada 2017)

Irgendwo in der marokkanischen Wüste werden ferngesteuerte Roboter eingesetzt, um amerikanische Öl-Pipelines zu bewachen. Eine dieser Drohnen steuert Gordon aus über 6.000 Kilometer Entfernung. „Eye on Juliet“ zeigt, was er dabei sieht, und vereint damit die seltsamsten Gegensätze. So sind etwa die Roboter alt und fehleranfällig, verfügen aber über die präziseste Spracherkennungs- und Übersetzungssoftware, die Zuschauern, die mit dem Können von Google Translate vertraut sind, unheimlich unrealistisch vorkommen.

Vor dem Hintergrund dieses Settings – ein Hauptcharakter, der am eigentlichen Geschehen nur aus der Ferne teilnimmt – bleiben die Figuren oberflächlich. Gordon ist die Schablone des weißen Helden: Ein Mann, der nicht über seine Gefühle spricht und stur seinen amerikanischen Moralvorstellungen folgt. Er trifft auf die namenlose Marokkanerin, die natürlich seiner Rettung bedarf. Während er sie durch die Kamera seiner Drohne beobachtet, ähnelt sein Verhalten mehr und mehr dem eines Stalkers – der Film scheint das jedoch nicht zu hinterfragen, sondern Gordon viel mehr dafür zu belohnen. Die größte Stärke entfaltet „Eye on Juliet“ in den wenigen Szenen, die die herrschenden Machtverhältnisse nicht nur beobachten, sondern sie kritisieren.

Visuell und schauspielerisch stark, bleibt „Eye on Juliet“ doch vorhersehbar und ein kleines bisschen pathetisch. Trotzdem: Vor allem die erste Hälfte lohnt sich, allein schon, um endlich mal einen englischsprachigen Film zu sehen, in dem arabische Dialoge nicht von aggressiv bellenden Terroristen, sondern von normalen Menschen stammen. nc

„Eye on Juliet” läuft auf dem Filmfest zweimal, in der Reihe International Independents.

The Insult (Belgien/Frankreich/Libanon 2017)

Manchmal reicht ein kleines Abflussrohr aus, um einen Rechtsstreit in Gang zu setzen, der weit über den persönlichen Konflikt zwischen zwei Männern unterschiedlicher Herkunft hinausgeht – und damit die politischen Spannungen eines ganzen Landes aufzeigt. Die beiden Männer, um die es hier geht, heißen Toni und Yasser. Toni ist libanesischer Christ. Als er beim Blumenwässern auf dem Balkon wegen eines defekten Abflussrohres versehentlich Yasser, den Vorarbeiter eines Bautrupps, nass macht, entsteht ein Streit zwischen den beiden Männern, in dem es zu üblen Beschimpfungen und Körperverletzung kommt. Den schlimmsten Satz sagt dabei Toni zu Yasser, der als palästinensischer Flüchtling nach Beirut gekommen ist: „Scharon hätte euch alle auslöschen sollen“. Daraufhin schlägt Yasser zu. Der Fall landet vor Gericht.

Während der Gerichtsverhandlung wird schnell klar, dass es hier nicht vordergründig um einen Abfluss geht, sondern um tief sitzenden Hass, Vorurteile und Rassismus. Gekonnt lenkt Regisseur Doueiri die Sympathien zunächst auf Yasser, den illegalen, palästinensischen Flüchtling. Doch die Welt ist natürlich nie einfach nur schwarz-weiß, die Medaille hat immer zwei Seiten. Im Verlauf des Films wird immer mehr Persönliches zu den beiden Männern aufgedeckt. Vor einem höheren Gericht, vor dem der Fall schließlich landet, sind Toni und Yasser schon längst keine privaten Streithähne mehr, sondern Repräsentanten einer politischen Gruppe. Ihr Fall hat das Interesse der Medien geweckt, und während im Gerichtssaal heftig mit Worten gekämpft wird, finden draußen auf der Straße Tumulte zwischen Palästinensern und Libanesen statt.

Spannend und temporeich sind die Szenen vor Gericht inszeniert, in denen die beiden Anwälte von Toni und Yasser nicht nur für ihre Mandanten kämpfen, sondern auch die Geschichte des libanesischen Bürgerkriegs aufarbeiten. Großartig sind die Schauspieler, allen voran die beiden Hauptdarsteller, die überzeugend zwei Männer verkörpern, die versuchen, mit Traumata aus der Vergangenheit zurechtzukommen. Fesselnd ist der dramaturgische Aufbau, die Verkettung von Handlungen und Ereignissen, die immer wieder unvorhergesehene Wendungen in den Sachverhalt bringen. Und hoffnungsvoll ist die Botschaft am Ende: dass gegenseitiges Verständnis doch möglich ist, auch wenn die Erinnerungen an Krieg und Leid das manchmal verhindern wollen. Ein absolut empfehlenswerter Film. jr

„L’Insulte” läuft auf dem Filmfest einmal, in der Reihe Spotlight. Unsere ausführliche Kritik lest ihr hier.

Park Hwa-Young (Korea 2017)

Der Titel des Films ist auch der Name der Protagonistin: Park Hwa-Young ist auf sich alleine gestellt. Sie geht noch zur Schule, lebt aber alleine in einer winzigen Wohnung. Sie kocht Ramen für ihre Freundinnen und wird von ihnen Mama genannt. Aber das Leben der Teenager ist alles andere als eine Familienidylle. Derbe Beschimpfungen, Demütigungen, Sex und sadistische Gewalt sind Alltag.

Der Film geht ans Limit. Er geht an die Substanz, und es gibt gute Gründe, weshalb der Film keine Jugendfreigabe hat. Es geht dabei nicht nur um besonders graphische Darstellungen von körperlicher Gewalt, sondern auch um besonders eindrückliche Darstellungen von Demütigung und psychischer Gewalt. Regisseur Lee Hwan scheint auch nicht an einer kompakten Story interessiert zu sein. Der vollständige Handlungsbogen erschließt sich erst im Nachhinein. Während der zwei Stunden Film ist der Zuschauer auf sich alleine gestellt. Ebenso wie die Protagonistin.

„Park Hwa-Young“ zeichnet sich aus durch eine unangenehme Nähe zu seinen Figuren. Es gibt kaum flache Küchenpsychologie so wie „Sie hatte eine schwere Kindheit“ oder „Sie muss sich erst noch finden“. Jeder Charakter, egal was er tut, wird voll und ganz ernst genommen. Und das tut oft weh. msr

„Park Hwa-Young” läuft auf dem Filmfest zweimal, in der Reihe International Independents.

Pity (Griechenland/Polen 2018)

Die schwarze Komödie „Pity“ aus Griechenland wurde beschrieben als Film über einen Mann, der nur dann glücklich ist, wenn er unglücklich ist. Eine gute Ausgangslage für absurden Humor; und tatsächlich startet der Film auch dementsprechend. Tiefe Geigen, Palmenstrand, ein Mann, der übertrieben schluchzt. Der unglückliche Protagonist. Seine Frau liegt im Koma, er ist allein mit dem Sohn, von seinen Mitmenschen wird ihm sehr viel Mitleid zuteil. Von all diesen kleinen Aufmerksamkeiten macht er irgendwann sein Glück abhängig.

„Pity“ kommt mit wenigen Dialogen aus. Der Grieche Yannis Drakopoulos verkörpert seinen absurden Protagonisten mit einem reduzierten, fast emotionslosen Spiel. Dadurch erhält der Film einen sehr ruhigen Charakter ohne einladende Pointen – so richtig mögen sich weder Spannung noch Humor aufbauen. Vielleicht wäre die Idee in einem Kurzfilm besser verarbeitet gewesen.

Dennoch: Regisseur Babis Makridis und seine Darsteller haben es vermocht, dieses widersprüchliche Gefühl in Film zu gießen, wenn man unglücklich ist und diesen Zustand gleichzeitig in gewisser Weise genießt. Das ist beeindruckend. om

„Pity” läuft auf dem Filmfest dreimal, in der Reihe International Independents.

Tigre (Argentinien 2017)

„Tigre“ ist mehr ein Gefühl als ein stramm durcherzählter Plot-Film – er wird aber nie langweilig, weil das Gefühl, das vermittelt wird, kein langweiliges ist. Es ist eine Mischung aus Sehnsucht, Gefahr und Wildheit, die im Film jede Sekunde mitten aus den dschungelartigen Tiefen des Tigre-Deltas aufsteigt. In genau dieses wunderschöne und zugleich irgendwie bedrohlich wirkende Tigre-Delta kehrt Rina nach vielen Jahren in ihr leerstehendes Haus zurück. Begleitet wird sie von einer langjährigen Freundin, Elena. Nach und nach füllt sich das Haus – unter anderem mit Rinas mittlerweile erwachsenem Sohn Facundo, der anreist, weil er muss, nicht unbedingt weil er will. Denn es gilt eine Entscheidung zu treffen: Verkauf des Hauses oder Kampf gegen die drohenden Bulldozer, die die Wildheit des Tigre-Deltas nicht mehr wild sein lassen wollen. Allein mit dieser schwierigen Situation oder der noch schwierigeren Vergangenheit zwischen Rina und ihrem Sohn könnte ein ganzer Film gefüllt werden.

„Tigre“ wagt aber mehr. Er erzählt von Müttern und ihren Kindern, die sich gegenseitig zu wild oder zu wenig wild sind, von Söhnen, die ihren Umgang mit ihrer eigenen Wildheit erst noch finden müssen, und von Melina, die eigentlich noch ein kleines Mädchen ist, aber trotzdem ständig von zu Hause wegläuft, um mit zwei wilden Jungen zusammen wild sein zu können. Das alles wirkt manchmal etwas zu oberflächlich, ein bisschen zu viel, die meiste Zeit schaffen die beiden Regisseure es aber, jede dieser vielen Figuren mit genug Zeit und Tiefe zu füllen. Diese Tiefe kommt nicht zuletzt von den mehr als beeindruckenden Bildern des Tigre-Deltas, die zusammen mit der Musik einen Zustand erschaffen, der konstant zwischen der zahmen und der bedrohlichen Seite von Wildheit schwankt. Hier herrscht das Gesetz des Dschungels: jeder macht, was er will. lb

„Tigre“ läuft auf dem Filmfest dreimal, in der Reihe CineVision (Wettbewerb).


Während des Filmfests hört ihr täglich unseren Kinomarathon im Programm (Hörbar am Vormittag), ausführliche Kritiken gibt's zusätzlich jeden Tag online. Außerdem könnt ihr unser Filmfabrik Spezial zum Filmfest München nachhören am 28.06. um 13 Uhr in der Wiederholung, sowie in unserer Mediathek. Infos zu Vorführungsterminen und Tickets findet ihr hier.

Platte des Monats

Conor O'Brien zeigt mit The Art of Pretending to Swim, dass Indie-Folk auch im Jahr 2018 noch spannender klingen kann, als man das von diesem Genre erwartet hätte. Das vierte Album der Villagers vereint, was eigentlich widersprüchlich wirkt: Folk mit R'n'B und Experimentierfreude mit Zugänglichkeit. 

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M94.5 präsentiert
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