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Filmfest: Erik Poppes Meisterwerk

Quelle: © Paradox

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Eine Reportage, die eigentlich ganz anders geplant war – bis ein filmisches Glanzstück und ein beeindruckender Regisseur dazwischenkamen.

Eine Reportage, die eigentlich ganz anders geplant war – bis ein filmisches Glanzstück und ein beeindruckender Regisseur dazwischenkamen.

Eigentlich sollte an dieser Stelle ein Artikel über die Darstellung von Gewalt und Krieg der Filmfest-Werke stehen – vom experimentellen SciFi-Thriller  „Under the Skin“ mit Scarlett Johannson, über den perfekt komponierten kriminalistischen Psycho-Thriller „Das Blaue Zimmer“, bis zu „Joe“ mit Nicholas Cage und „To Kill A Man. Wie subtil oder direkt wird die Gewalt gezeigt? Welche Botschaften vermitteln die Filme? Was sind die Unterschiede, auch zu den letzten Jahren und zu Klassikern? Solche Fragen eben wollte ich beantworten.

Aber dann kam das letzte Werk, das ich zu diesem Thema sehen wollte. Und das stellte alle anderen in den Schatten.

Gegen den schwarz-rot-goldenen Strom

Zugegeben: Wenn ich keine Verabredung für den Film hätte, ständen die Chancen hoch, dass ich gar nicht erst hingehe. Der Grund: Zeitgleich kämpft sich die deutsche Elf durch das WM-Viertelfinale gegen Frankreich. Die erste Halbzeit würde ich auf jeden Fall verpassen.

Auf dem Weg ins Kino sind Münchens Straßen übersäht von schwarz-rot-goldenen Hawaiketten, Haarreifen mit Bunny-Ohren und erwartungsvollen Gesichtern mit Fahnen auf den vor Aufregung rot glänzenden Wangen. Mein Weg führt mich aber vorbei an den Biergärten, wo zu jedem Tor eine Maß gekippt wird, und all den Eckkneipen, die ihre verstaubten, schiefen Leinwände wieder aus dem Keller gekramt haben. Vor dem ARRI-Kino steige ich vom Rad und lasse mir die Kommentare meiner Freunde nochmals durch den Kopf gehen. „Den Film kannst du in zwei Jahren auch noch sehen, das Spiel gibt’s nur einmal!“ „Das hätt ich nicht mal von ner Kulturjournalistin gedacht!“ „Ach, du bist doch verrückt!“

Falls ich wirklich verrückt bin, bin ich immerhin nicht die Einzige, stelle ich beruhigt im Kinosaal fest. Es haben sich auch einige andere Cineasten hierher verirrt, etwa ein Drittel der Plätze ist besetzt. Es wird dunkel.

Regisseur mit Humor – und einer einmaligen Erinnerung

Der Norweger Erik Poppe betritt die Bühne, preisgekrönter, international bekannter Filmregisseur und Drehbuchautor. Es ist die einzige der drei Vorstellungen seines Films, bei der er anwesend ist – die anderen beiden waren restlos ausverkauft. Doch er nimmt den nicht einmal halbvollen Saal mit Humor und verspricht, noch vor der Fragerunde im Anschluss den Spielstand durchzusagen. Dann erzählt er eine bewegende Geschichte zum Einstieg, die erklärt, warum er ausgerechnet zu dieser Vorstellung kommen wollte:

„Ich war schon einmal in diesem Kino, in diesem Raum. Das war im November 1989. Ich war ein Student und auf einem Filmhochschul-Festival. Ich saß genau dort, in der Mitte des Raums. Plötzlich stoppte die Filmvorführung. Das Licht ging an und Caroline Link kam auf die Bühne. Sie sagte: ‚Es passiert etwas in Berlin!’ Für mich war das ein sehr emotionaler Moment. Ich saß dort mit vielen ostdeutschen Studenten und es war eine total verrückte Nacht. Und heute ist das erste Mal, dass ich hierher zurückkehre. Das Leben ist komisch, oder?“

Fulminante Anfangsszenen

Für ihn ist es eine große Sache, dass ausgerechnet hier sein Werk gezeigt wird. Vergnügen wünscht Erik Poppe den Zuschauern bewusst nicht, bevor die Aufführung beginnt. „Schaut euch den Film einfach an!“, ruft er und verlässt die Bühne.

Ab der ersten Minute zieht der Film einen mit seinen perfekt komponierten Bildern in seinen Bann. Sechs verschleierte Frauen stehen um ein ausgehobenes Grab, in ihr liegt eine weitere Frau. Die anderen murmeln mit geschlossenen Augen Gebete vor sich hin. Plötzlich schlägt die vermeintlich Leblose in der Grube die Augen auf. Tot ist sie nicht – zumindest noch nicht –, aber das wundert auch keinen. Die anderen Frauen waschen sie und binden ihr Gürtel um den nackten Körper. Gürtel voller Sprengstoff. Die Zündschnur wird ihr in die Hand gedrückt, die Munition mit Schleiern überdeckt. Bei all diesen Szenen ist eine Frau dabei, die nicht am Ritual beteiligt ist. Ihr Gesicht ist hinter einer Kamera versteckt, sie knipst unablässig. Rebecca, gespielt von einer brillanten Juliette Binoche, ist Krisenfotografin. Sie wird die Selbstmordattentäterin im Auto fast bis zur letzten Sekunde begleiten und fotografieren, bis sie selbst bewusstlos im Staub liegt.

Anti-Kitsch, anti-romantisierend

Atemlos sitzte ich im Kino. Dass ich auch nur daran gedacht hatte, den Film sausenzulassen, kommt mir schnell vollkommen unverständlich vor. Der Film heißt „A Thousand Times Good Night“. Den Titel nenne ich ganz bewusst erst so spät, er klingt viel zu sehr nach dem neuesten Nicholas Sparks-Kitsch. Und Kitsch hat in diesem Film garantiert nichts verloren. Erik Poppe erzählt in seinem vierten Kinofilm absichtlich nicht glorifizierend und beschönigend vom Beruf der Kriegsfotografen, wie er danach erklärt:

Ich wollte nie eine dramatische oder romantisierende Geschichte eines Kriegsfotografen oder – korrespondenten erzählen. Ich habe so viele Filme gesehen, die den Job romantisieren. Ich möchte es so präzise wie möglich erzählen und den Film denen widmen, die dort draußen sind und diesen Job machen. Weil es ein wichtiger Job ist.“

Aber warum ist der Job in Eric Poppes Augen so wichtig, warum brauchen wir immer noch mehr Bilder, die das Grauen zeigen? Für Rebecca wird die Jagd nach immer noch einem „shot“ regelrecht zur Sucht, um ihren Hass zu bekämpfen.

"Die Welt kann sich immer nur auf einen Konflikt konzentrieren und das ist verrückt! Wir brauchen diese Menschen, die dort hingehen und die Geschichten erzählen. Aber ich meine nicht, dass die Journalisten die Helden sind. Das sind die Leute, die mitten im Konflikt leben - so wie zur Zeit im Kongo!"

„Ich war selbst Krisenfotograf“

Im Vordergrund von „A Thousand Times Good Night“ steht die Zerrissenheit zwischen Berufung und Belastung von Rebeccas Familie. Die hat Erik Poppe selbst auch schon erlebt. Hintergrund des Films ist nämlich seine eigene Geschichte:

"Das ist der privateste Film, den ich je gemacht habe. Er enthält viele eigene Erfahrungen mit meinen beiden Töchtern und meiner Frau. Ich habe sie bei jeder Szene gefragt, ob ich es benutzen darf, weil es so privat ist.

In den 1980ern war ich selbst Kriegsfotograf. Ich wurde zu verschiedenen Konflikten auf der ganzen Welt gebracht – vom Falkland-Krieg, der der Erste war, über den Irak und Iran bis zu Angola. Ich habe diese Karriere beendet, weil ich zurück an die Filmhochschule gegangen bin. Ich habe meine Karriere als Krisenfotograf zurückgelassen – und um ehrlich zu sein: Ich dachte nicht, dass ich jemals zurückgehen würde. Ich dachte, ich bin nicht gut genug, um mein Leben so einem Risiko auszusetzen. In den letzten sechs oder sieben Jahren habe ich angefangen, zurückzugehen – mit einer Filmkamera. Mit zwei Töchtern und einer Frau habe ich jetzt gemerkt: Das ist der Aufhänger, den ich benutzen kann.“

Juliettes verhängnisvolle Kaffeetasse

Aber warum hat Poppe die Geschichte auf eine Frau übertragen und die Hauptrolle im norwegischen Film dann auch noch mit einer französischen Schauspielerin besetzt?

„Um den Zwiespalt zwischen Beruf und Familie klar zu machen, war es leichter, die Geschichte als die einer Frau zu erzählen. Außerdem finde ich es sehr wichtig, dass auch Frauen diesem Beruf nachgehen. Männer in diesen Positionen kannst du in jedem Film sehen.

Und Juliette Binoche ist für mich die beste Schauspielerin dieser Zeit! Sie hasst es, eine Diva zu sein .Ich kenne trotzdem keine andere Schauspielerin oder keinen Schauspieler, der so unterstützend ist. Auch wenn sie eine Kaffeetasse nach mir geworfen hat, als wir das Skript diskutiert haben, weil sie meine Ideen gehasst hat! (lacht)“

„Es ist die Erklärung, warum ich gemacht habe, was ich gemacht habe.“

Die Hauptrolle mit der brillanten Juliette Binoche zu besetzen, hat sich ausgezahlt: Im Rahmen des Filmfests München wurde „A Thousand Times Good Night“ bereits mit dem Fritz-Gerlich-Preis ausgezeichnet, der mit 10.000 Euro dotiert ist. In Gedenken an den Publizisten Fritz Gerlich, der im KZ Dachau ermordet wurde, werden hier Filme geehrt, die ein Zeichen gegen die Verletzung der Menschenwürde setzen. Große Worte für Erik Poppe. Doch bevor er nach der Filmvorstellung die Bühne verlässt, sagt er noch, was für ihn selbst am wichtigsten war: was seine Familie von der Verarbeitung der persönlichen Geschichte hält.

„Die älteste Tochter aus dem Film basiert sehr stark auf meiner ältesten Tochter. Deswegen war mir besonders wichtig, was sie von dem fertigen Film hält. Viele haben mich davor gewarnt, ihn meinen Kindern zu zeigen – die Kleinere hat ihn auch nicht gesehen. Meine ältere Tochter hat danach gesagt, sie hat viel geweint. Aber es hat ihr auch gezeigt, wie gut ich sie verstanden habe.“

Und mit den Worten „Für mich ist es die Erklärung, warum ich gemacht habe, was ich gemacht habe“ verlässt er den Saal und lässt ein zu einem Drittel besetztes Kino klatschend zurück. Aber die wenigen, die an diesem Tag da waren, die wissen: Gerade haben sie ein filmisches Glanzstück zu sehen bekommen - für manche, die ich im Anschluss gefragt habe, einer der besten Filme, den sie je gesehen haben.

„A Thousand Times Good Night“ läuft in Norwegen und Großbritannien im Herbst an, der deutsche Kinostart steht noch nicht fest.

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