Heckenschützen im Marstall
Im Stück Call me God im Marstall-Theater geht es eigentlich um die Beltway Snipers, die Heckenschützen, die 2002 ganz Amerika in Angst und Schrecken versetzt haben. Aber es geht hier auf der Bühne um sehr viel mehr.
Bei der Premiere im Marstall ist jeder Platz besetzt. Das Stück Call Me God, das eine Co-Produktion mit dem Theatro Argentina in Rom, dem Romaeuropa Festival sowie dem Festival „Quartieri dell’ arte“ in Viterbo ist, verspricht schon allein aufgrund seines Themas interessant zu werden. Alle hier haben die Geschehnisse im Jahr 2002 verfolgt, als Unbekannte aus einem Fahrzeug heraus wahllos auf Menschen schießen.
Video, Tanz und Musik
Das Stück beginnt mit einer Hinrichtung durch Injektion, wobei genau erklärt wird, wie dieser Prozess vor sich geht. Dann beginnt eine rasche Abfolge an Einzelszenen, die bis zum Ende nichts an Geschwindigkeit verliert. Mit Hilfe von Videoübertragungen, Musik, Tanz und Gesangseinlagen wird die Geschichte der sogenannten Beltway Snipers erzählt, die drei Wochen lang im Oktober 2002 in Washington D.C., Maryland und Virginia ihr Unwesen trieben. Sie erschossen zehn Menschen aus einem Auto heraus und verletzten drei weitere schwer.
Der unbekannte Heckenschütze, bei der man zunächst von einer Einzelperson ausgeht, hinterlässt an einem Tatort eine Tarotkarte mit der Aufschrift "Call me god". Bald wird er von den Medien und der Gesellschaft ebenso verfolgt wie von der Polizei - und dasi meist voll Spannung vor dem Fernsehgerät. Auf der Bühne sehen wir Talkshows und Nachrichtensendungen, die sich mit dem Thema beschäftigen. daneben erhalten wir Blicke ins Polizeipräsidium. Auch die Tode der 10 Opfer werden gezeigt, scheinen aber bald immer mehr zur Nebensache zu werden. Die vier Schauspieler schaffen es bei der raschen Szenenabfolge gerade so, ihre unzähligen Kostümwechsel durchzuführen, wenn sie in die Rollen von Experten, Moderatoren, Opfern, Augenzeugen, Ehefrauen oder Polizeifrischlingen schlüpfen. Die Szenen, die nicht oft ins Absurde gipfeln, sorgen zum einen für Lacher, machen aber vor allem die merkwürdigen Reaktionen in der Realität deutlich, wenn sich eine Gesellschaft plötzlich von einer Einzelperson terrorisiert sieht.
Kritik am amerikanischen Way of Life
Das Stück erscheint wie eine Art Rundumschlag, und nicht immer ist klar, gegen wen oder was sich die Kritik genau richtet. Die Medien, die die Schützen zu Helden erheben und nebenbei ihren Umsatz fröhlich steigern, sind ein Hauptthema des Stückes - ebenso wie die Sensationslust der Gesellschaft, die das erst möglich macht. Aber auch Seitenhiebe auf den Konsum, vor allem Supermärkte, die Zustände in Guantanamo, die Sex-Sells-Mentalität oder, ganz einfach, eine Kritik am gesamten amerikanischen Way of Life fehlen nicht, wenn im Hintergrund auf Großbildschirm die amerikanische Flagge weht, vor der ein sehr an eine Marlborowerbung erinnernder Cowboy reitet, während auf der Bühne eine unschuldiger Gefangener im Gefängnis verprügelt wird.
Das Stück soll laut einem der vier Autoren einem kubistischen Gemälde ähneln, was szenisch treffend umgesetzt wurde. Zunächst fesselt die Schnelligkeit und rasante Abfolge der Szenen den Zuschauer, doch in der Mitte weist das Stück einige Längen auf, in denen nicht mehr ganz klar ist, warum die Schauspieler sich jetzt ausziehen und einen Song zum besten geben oder warum sich die Schauspielerin schon wieder umziehen muss, da sie ohnehin gleich erklären wird, wen sie jetzt verkörpert. Das Werk gleicht einer Aneinanderreihung von Momentaufnahmen und spielt dabei mit genau den Mitteln, die es selbst kritisiert. Dabei schafft der Regisseur Marius von Mayenburg es sehr gut, die Schnelligkeit und Kurzlebigkeit der heutigen Informationsgesellschaft zu demonstrieren.
Verwirrung beim Zuschauer
Den Zuschauer lässt das ganze Spektakel etwas verwirrt zurück. Man hat kaum Zeit, die einzelnen Aspekte genauer zu verstehen. Wo man sich im Theater häufig mehr Klarheit gewünscht hätte, ist hier alles etwas zu zugespitzt. Die Beltway Snyper wurden am 24. Oktober auf einem Parkplatz festgenommen. Der 34-jährige John Allan Muhammad wurde zum Tode verurteilt und hat bis zu seiner Hinrichtung über die Motive geschwiegen, der 17-jährige Lee Boyd Malvo wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Stück äußert er sich zu seinen Motiven, die die späteren Spekulationen in den Medien wieder aufgreifen.
Das Stück Call me God ist noch bis zum 23.12. im Marstall-Theater des Residenztheaters zu sehen.
Weitere Informationen gibt es beim auf der Homepage des Residenztheaters.
Bildquelle: Fotograf Hans Jörg Michel/ Pressestelle Residenztheater