Vom Realismus einer brutalen Welt und dem Glauben an die gute Zukunft
Henning Mankell im Interview
Am Mittwoch wurde bekannt, dass der schwedische Autor an Krebs erkrankt ist. Kurz zuvor haben wir ihn noch zum Interview getroffen – aus aktuellem Anlass hier zum Nachlesen.
Tumore in Lunge und Hals lautet die Diagnose, die Henning Mankell seit etwa zwei Wochen kennt und gestern der Öffentlichkeit über die schwedische Zeitung „Göteborgs Posten“ mitgeteilt hat. Der schwedische Autor, Theaterregisseur und politischer Aktivist leidet an Krebs. Seine Ärzte befürchten, dass sich die Tumore zudem bereits auf andere Körperteile ausgeweitet haben. Der 65-Jährige möchte sich aber ab jetzt nicht verstecken, sondern in der schwedischen Tageszeitung über den Kampf gegen seine Krankheit schreiben.
Kurz vor der Diagnose hat Elisabeth Kagermeier von M94.5 Henning Mankell noch zum Interview getroffen. Aus aktuellem traurigen Anlass gibt es das Gespräch hier zum Nachlesen. Im Interview blickt er zurück auf sein Leben, spricht über die Beziehung zu seinem Krimihelden Wallander und verrät, warum mehr Frauen an die Macht müssen.
M94.5: Wallander ist Ihnen ja eigentlich nur in ganz wenigen Sachen ähnlich. Was denken Sie: Über was könnten Sie sich gut mit ihm streiten, wenn er jetzt auch hier sitzen würde?
HENNING MANKELL: Ich weiß es gar nicht! Die Sache ist, dass ich mit der literarischen Figur Wallander wahrscheinlich nicht viel zu reden hätte! Wir würden jetzt gerade ein bisschen über das Wetter in München und den Raum hier reden. Aber wir würden uns sehr schnell anschweigen. Er und ich, wir sind sehr verschieden. Es gibt nur einige ähnliche Sachen: Wir haben dasselbe Alter, wir arbeiten beide viel und mögen eine bestimmte Art von Oper. Mal abgesehen davon haben wir nichts gemeinsam.
Vor vier Jahren haben Sie gesagt: Es wird keinen weiteren Wallander-Roman geben. Der, der jetzt erst vor kurzem auf deutsch erschienen ist, ist eigentlich ja auch schon davor entstanden. Aber gibt es denn die Möglichkeiten, dass noch weitere Bücher mit Linda Wallander, der Tochter, erscheinen könnten?
Ich denke, ich kann das auf deutsch beantworten: „Vielleicht“. Es ist absolut noch nichts entschieden. Es wird sicher nicht bald passieren. Aber: Sag niemals nie.
Also diese Geschichte, die ich jetzt veröffentlicht habe, ist wie gesagt eigentlich keine neue Wallander-Story, weil ich sie vor etwa zehn Jahren geschrieben habe. Aber wegen ein paar Umständen wurde sie nie veröffentlicht. Es war eigentlich der englische Schauspieler Kenneth Branagh, der die Geschichte während seiner Planungen für Wallander als BBC-Serie wiedergefunden hat. Er hat zu mir gesagt: „Ich will daraus einen Wallander-Film machen!“ Deswegen hab ich es nochmal gelesen und dachte: Das ist eigentlich eine ganz gute Geschichte! Aber die Handlung findet vor zehn Jahren statt. Also ändert das nicht das Ende der Geschichte von Wallander, in der er langsam Alzheimer bekommt.
Sie haben gerade schon gesagt: Im letzten Buch ergeht es Wallander ziemlich schlecht – er bekommt Alzheimer. Warum haben Sie die Figur, die sie so viele Jahre begleitet hat, so „negativ“ verabschiedet?
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob es negativ ist. Ich würde sagen, es ist realistisch. Weil du und ich wissen, dass es im Leben viele schwierige Zeiten gibt. Hier im Raum während dem Interview sind nur wir zwei. Aber nehmen wir mal an, es wäre eine dritte Person hier. Dann wissen wir, dass statistisch gesehen einer von uns drei Alzheimer bekommen wird. Aber wir wissen nicht, wer von uns. Also denke ich, es ist wichtig, über diese Dinge zu sprechen. Weil wenn wir nicht darüber sprechen, werden wir nicht mehr Forschung hervorrufen, um Medikamente für die Menschen zu finden, die an Alzheimer leiden. Und du und ich werden uns eines Tages hier zusammen mit einer dritten Person gegenüberstehen und uns fragen: Wer von uns wird darunter leiden? Ich denke, es ist nicht negativ über das Leben zu sprechen. Und das Leben ist manchmal ziemlich schwierig.
Wie groß ist Ihre Angst, selbst Alzheimer zu bekommen und dadurch auch Ihre Ideen zum Schreiben vergessen?
Das ist eine gute Frage. Zuerst einmal: Ich habe wirklich keine Angst vor dem Sterben. Ich hoffe, dass ich nicht morgen oder übermorgen sterbe, sondern noch viel Lebenszeit vor mir habe. Aber was mir Angst macht, ist, dass mir eines Tages jemand Nahestehendes sagt: „Henning, etwas Seltsames ist mit dir los. Du wiederholst dich. Du hast vergessen, dass du mir dasselbe schon vor einer Minute erzählt hast.“ Also ich meine, dass jemand für mich realisiert, dass ich meine Erinnerungen verliere. Dass ich körperlich komplett in Ordnung bin, aber meinen Verstand verliere. Das macht mir Angst. Wenn das passiert, möchte ich nicht mehr hier sein.
In seinem letzten Fall rekapituliert Wallander auch ein bisschen sein Leben, denkt zurück. Wenn Sie zurückdenken: Welche Bilder von Ihrem Leben kommen Ihnen als erstes in den Sinn?
Da gibt es so viele Bilder, die mir in den Sinn kommen. Positive und auch negative. Ich habe in meinem Leben – und du weißt, ich habe schon viele Jahre gelebt – für viele Jahre in Afrika gelebt und bin viel gereist. Ich habe viele gefährliche Situationen erlebt.
Möchten Sie dafür ein Beispiel verraten?
Ich kann dir ein Beispiel geben. Das war in Lusaka, der Hauptstadt von Sambia. Das war ungefähr 1985. Ich wurde von Räubern mit Waffen angegriffen. Sie waren alle auf Drogen. Normalerweise wenn das passiert, schießen sie einfach. Aber aus irgendeinem Grund haben sie nicht geschossen und ich habe überlebt.
Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, sehe ich, dass ich in meinem Leben so viel großartige Liebe in so vielen Formen gesehen und erfahren habe. Ich habe auch enorme Grausamkeit gesehen, die Menschen anderen Menschen antun. Ich habe Menschen gesehen, die Gutes tun. Ich denke, manchmal konnte ich auch Gutes tun. Und vor allem hatte ich das Privileg, in meinem Leben das zu tun, was ich am meisten wollte: Geschichten erzählen, Schriftsteller sein. Normalerweise habe ich ein sehr privilegiertes Leben geführt. Aber in diesem Privileg existieren als Gegensatz auch viele negative Erfahrungen. Aber das ist das Leben denke ich. Eine Person, die nie etwas schlechtes erlebt – diese Person gibt es nicht denke ich.
Sie haben einmal gesagt, Sie danken dem Schicksal, dass Sie in der Zeit nach Johann Sebastian Bach leben können, weil Sie seine Musik so sehr lieben. Aber gibt es denn irgendeine andere Zeit, in der Sie gerne gelebt hätten?
Das stimmt. ich erinnere mich daran, als ich über diese großen Helden der Musik nachdachte. Ich hätte natürlich auch von Beethoven, Mozart oder auch – warum nicht – von modernen Musikern wie Charlie Parker, dem bedeutenden Jazzmusiker, oder Miles Davis sprechen können. Aber ich erinnere mich auch, dass ich mal dachte: Wie wäre es gewesen, in einer Zeit vor Beethoven oder Bach zu leben. Das ist natürlich eine lächerliche Frage, weil wenn die Musik nicht da gewesen wäre, hätte ich sie nicht vermisst, weil ich nicht davon gewusst hätte. Aber ich bin glücklich, in der heutigen Zeit zu leben, in der diese Musik schon geschaffen wurde und ich sie genießen kann.
Obwohl wir da eigentlich nicht nur von Musikern sprechen können. Wir können auch von Schriftstellern sprechen wie Shakespeare, Heinrich Mann – um einen Deutschen zu erwähnen – oder Bertolt Brecht – um über einen anderen Deutschen zu sprechen. Wir können über Künstler sprechen, eigentlich über alles, was wir heute haben. Das ist sozusagen meine Beschreibung dafür, dass ich mich immer daran erinnere, in welcher wundervollen Zeit ich im Jetzt leben kann. Und die Menschen, die in ein- oder zweihundert Jahren leben werden, werden auch froh sein, die Musik von Queen oder Pink Floyd zu haben. Das ist also meine symbolische Art zu sagen, dass ich glücklich bin, dass so viele Künstler mein Leben ein bisschen besser machen.
Nicht nur Künstler können die Welt ein bisschen besser machen – Sie sind ja selbst auch überzeugter Feminist und sagen: Die Welt wäre besser, wenn mehr Frauen Macht hätten.
Das stimmt. Da bin ich mir ziemlich sicher. Ich lebe schon so lange, dass ich mit einiger Sicherheit sagen kann, dass Frauen normalerweise alles besser können als Männer. Und dann gibt es einige Dinge, die Frauen nicht tun. Frauen beginnen keine Kriege. Du kannst natürlich sagen, dass Margaret Thatcher auf den Falkland Inseln einen Krieg angefangen hat. Aber das hatte ja nichts damit zu tun, einen wirklich großen Krieg zu beginnen. Was heutzutage so erschreckend ist, ist, dass die Misshandlungen von Frauen – ob Vergewaltigung oder noch Schlimmeres – als eine Art Waffe benutzt wird. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen als das. Und wenn Frauen mehr Macht in der Welt hätten – wirkliche politische Macht – hätten sie die Möglichkeit, wenigstens einen Teil davon zu verhindern. Wenn ich noch miterleben könnte, dass Frauen mehr Einfluss haben – zum Beispiel in Afrika - , dann wäre ich sehr glücklich. Weil das wäre ein Schritt in eine bessere Welt.
Muss nicht, damit Frauen in Afrika mehr Macht und Rechte bekommen können, zuerst auch ein Umdenken bei den Männern stattfinden?
Das stimmt. Ich denke, wenn man nicht die Einstellung der Männer ändern kann, dann kann sich nichts ändern. Aber ich denke, die einzige Möglichkeit mit den Männern umzugehen ist, dass die Frauen ihnen gemeinsam sagen: Genug ist genug! Sie müssen zeigen, wie stark sie sind. Es beginnt mit den Frauen – und mit uns, weil wir ihnen Selbstvertrauen und Bildung dafür geben müssen. Für mich ist das eines der wichtigsten Dinge, die wir Europäer für sie tun können.
Was war für Sie der entscheidende Moment, dass Sie beschlossen haben, nach Afrika zu ziehen und sich dort für eine bessere Welt einzusetzen?
Ich denke, es gab viele Schlüsselmomente. Als ich ein junger Schriftsteller war, so mit 19 oder 20, habe ich gemerkt, dass ich eine andere Perspektive auf die Welt brauche - außerhalb der europäischen Egozentrik. Ich wollte die Verhältnisse an anderen Orten sehen. Das hat mich nach Afrika gebracht.
Das ist jetzt viele Jahre her. Wenn ich heute zurück nach Afrika gehe, gehe ich aus demselben Grund: Dass ich denke, dass die Kombination aus der afrikanischen und der europäischen Perspektive auf die Welt mich zu einem besseren Menschen macht. Es hilft mir, die Welt zu verstehen, in der ich lebe. Das war der erste Schlüsselgedanke, mit dem alles begonnen hat und der mich noch heute beschäftigt.
Warum haben Sie ausgerechnet Mosambik als zweite Heimat ausgewählt? Es gibt ja viele andere Länder in Afrika, die sie bereist haben.
Das Telefon klingelt, Mankell versucht mit seinen Händen und Zauberkraft das Klingeln zu stoppen. Es klingelt weiter, er zuckt mit den Schultern.
"Ich hab wohl doch keine Zauberkraft."
Nach einem erneuten Klingeln hört es doch auf, er grinst triumphierend: "Oder doch?"
Zu der Frage: Das ist eine lange Geschichte. Ich habe in verschiedenen afrikanischen Ländern gelebt, aber ich wurde tatsächlich in den 80ern nach Mosambik eingeladen, als ein paar Leute das erste professionelle Theater dort aufgebaut haben. Und auf seltsame Weise hatten sie von mir gehört. Ich sollte eigentlich eine Woche bleiben – das ist jetzt 25 Jahre her. Ich glaubte auch, dass ich irgendwo bleiben muss, also habe ich letztendlich in diesem Theater gearbeitet. Ich denke, es war gut, dort zu bleiben. Eine kurze Antwort auf eine komplizierte Frage.
Auch wenn Sie jetzt Mosambique Ihre Heimat oder zweite Heimat nennen – was glauben Sie, was für typische schwedische Eigenschaften haben Sie sich behalten?
Ich habe mich selbst nie als eine sonderlich schwedische Person gesehen, sondern als europäische. Das ist eine Frage von Stolz auf das demokratische System und eine vernünftige Gesellschaft, in der man auf alte und junge Leute Acht gibt. Das sind Dinge, die in vielen afrikanischen Ländern noch fehlen. Aber ich sehe auch viele Dinge in der afrikanischen Kultur, die mir nahe sind. Es war sehr wichtig zu sehen, dass ich beide Kulturen verbinden kann ohne meine Identität zu verlieren.
Inwiefern hat Afrika Sie zu einem besseren Europäer gemacht?
Ich denke durch die Distanz an sich. Wenn Afrikaner über Europa reden, missverstehen sie vieles. Ich erzähle dann von den europäischen Demokratien. Dass es eigentlich ein sehr gutes politisches System ist, sehe ich aus der afrikanischen Perspektive viel klarer. Also kann ich symbolisch sagen: Afrika hat mich zu einem besseren Europäer gemacht. Weil dann kann ich sehen, was ich sehen sollte.