M94.5 Theaterkritik
Keine Zeit zu leben
Der 3. Jahrgang der Otto Falckenberg Schule bringt Fritz Katers DDR-Triptychon "Zeit zu lieben, Zeit zu sterben" dynamisch und atemlos ins digitale Zeitalter.
2002 feierte „Zeit zu lieben, Zeit zu sterben“ von Fritz Kater am Thalia Theater in Hamburg seine Uraufführung. Hinter dem Pseudonym Fritz Kater versteckt sich der Regisseur und Intendant Armin Petras. Von Kritikerseite wurde das Stück für die Wiederspiegelung einer Jugend, die trotz der Statik und Starrheit eines Systems, den Ausbruch sucht, national und international gelobt und ausgezeichnet. Mehr als 15 Jahre später ist "Zeit zu lieben, Zeit zu sterben" nun als Produktion der Otto Falckenberg Schule an den Münchner Kammerspielen zu sehen. Die Schauspielstudierenden des 3. Jahrgangs setzen sich in der Inszenierung von Robert Lehninger mit den Themen der Fritz Kater-DDR-Studie auseinander und projizieren sie im Spiel mit Videoelementen auf eine jüngere Generation – mitunter sich selbst.
Old Man, look at my life
In den drei Teilen von "Zeit zu lieben, Zeit zu sterben" geht es um eine Jugend, die innerhalb des einengenden Systems der DDR erwachsen wird. Erzählt ist das Ganze aus einer rückblickenden Perspektive, die von Anfang an eine melancholisch-düstere Grundstimmung bewirkt. Die Inszenierung der Falckenberg Schule hält sich an Armin Petras alias Frotz Katers Dreiteilung der inhaltlichen und ästhetischen Ebenen des Stücks. In einem ersten Teil treten die Schauspielschüler*innen in einheitlichen, bewusst stereotypen Kostümen als Gruppe ohne individuelle Züge auf. Parallel zu projizierten Videoelementen und Kinderfotos der Darsteller werden die Erinnerungsfetzen aus der Kindheit und Jugend eines 16-Jährigen Ost-Berliners erzählt. Im dynamischen Wechsel der elf Darsteller oder als gemeinsame Chropartie wird die Geschichte universell. Mit den Zeilen "Old man look at my life, I'm a lot like you were" von Neil Young endet Teil eins. Im zweiten Teil werden die Sehnsüchte und Wünsche der Jugendlichen und zugleich deren Verluste und Misserfolge zum Thema. Die Kostüme wechseln und die Schauspieler*innen werden zu Charakteren in der Geschichte einer Familie um zwei Brüder und die Beziehung ihrer Mutter zu "Onkel Beurer". Im letzten Teil des DDR Triptychons geht es schließlich konkret um das Erwachsenwerden. Nach dem Mauerfall zieht ein Mann in den Westen. Dort verliebt er sich, doch die Beziehung scheitert. "Warum musste Eva 51 werden, um zu begreifen, was Liebe ist?". Neue Möglichkeiten in einer neuen Welt müssen erst den noch eingeschränkten Horizont der jungen Erwachsenen durchdringen, um greifbar zu werden. Dieser Gedanke zieht sich durch den fragmentarisch wirkenden Abend.
I'm a lot like you
Das Bühenbild aus einer abgeschlossen Rauminstallation, auf deren Außenseite das Videomaterial projiziert wird, erscheint als gelungenes gestalterisches Element, um die Dichte und Atemlosigkeit der einzelnen Teile zusammenzuhalten. Auch wenn sich die dynamischen Prosapartien in der aufgeregten Darstellung teils verfangen oder verirren, bleibt eine grundlegende Message durchweg klar erkennbar. "Zeit zu leben, Zeit zu sterben" zeigt in der Inszenierung der Falckenberg Schule eine gleichsam universelle wie individuelle Auseinandersetzung mit den Themen Liebe, Verlust und Erwachsenwerden in einer undurchdringbaren Außenwelt. Am Ende kommen die Schüler*innen daher auch noch selbst zu Wort. Sie sprechen über ihre eigenen Wünsche, Träume und Ängste und transportieren das Stück so in ihre eigene Lebensrealität. "Zeit zu leben, Zeit zu sterben" hat in einer Generation, die sich durchgehend selbst übertreffen will, immer weiter und weiter macht und letztlich kaum Zeit zum Leben hat, nicht an Aktualität verloren.