Vertraute Fremde
Anonymität in Mietshäusern und das Aufeinanderprallen von verschiedenen Kulturen sind die Themen in Johanna Richters Tanzstück am DANCE-Festival.
"Zeigen, was wichtig ist" sollen die Tänzer und Choreografen des DANCE-Festivals 2012, das ein wenig die Biennale für zeitgenössischen Tanz ist. Zugegeben: "Zeigen, was wichtig ist", ist ein sehr freies Motto - dahinter kann sich wirklich alles verbergen. Für Johanna Richters Stück "Intimate Stranger" heißt das, die Anonymität in Mietshäusern, das Aufeinanderprallen von verschiedenen Kulturen und Männertanz zu thematisieren.
Sechs Männer leben auf einem Stockwerk in einem typischen charakterlosen Wohnhaus: karge graue Wände, kühle und triste Atmosphäre. Das Bühnenbild zeigt den Flur vor den sechs Türen zu den Ein-Zimmer-Appartements. Hier treffen die Bewohner flüchtig aufeinander - Begegnungen, denen die meisten lieber aus dem Weg gehen würden. Gesprochen wird wenig, die meisten möchten anonym bleiben und die Mitbewohner nicht kennenlernen. Und die, die den anderen näher kommen wollen, scheitern entweder an Verständigungsschwierigkeiten oder am Unwillen des Gegenübers. Man sieht sich jeden Tag und kennt sich doch nicht; die Bewohner sind "Intimate Strangers" - vertraute Fremde.
Für die Choreografin und Regisseurin Johanna Richter, die schon seit 2003 ihre Produktionen auf die Bühne der SchauBurg bringt, ist das Stück wie eine Versuchsanordnung: "Jeder lebt auf 35 Quadratemetern. Jeder ist männlich. Jeder hat die gleiche Ausgangssituation. Nur in ihrer Herkunft unterscheiden sie sich. Was macht jeder, abhängig von seinem Charakter und seiner Kultur, aus dieser Situation? Das fand ich interessant".
Bewohner mit Macken
Die sechs sehr unterschiedlichen Männer haben alle ihre Macken und Geheimnisse: ein griechischer, etwas älterer Ordnungsfanatiker versucht zum Beispiel, seine Mitbewohner auszuspionieren und auf dem Hausflur zu fotografieren. Mit Blumen auf den Fußmatten will ein gutgläubiger Brasilianer seinen Mitmenschen jeden Morgen eine Freude machen - doch der gierige Spitzbube von nebenan reißt sich jeden Morgen wieder alle Schnittpflanzen unter den Nagel. Dem Drogendealer mit der lauten Hip-Hop-Musik versucht der Saubermann - von Beruf Polizist - gespielt von Tim Bergmann (bekannt aus Film und Fernsehen) auf die Schliche zu kommen. Doch der Bad Boy hat ganz andere Sorgen: Denn wer ist bloß die hübsche Frau, die jede Nacht aus dem Appartement des unauffälligen Sportlers kommt?
Slapstick-Pantomime mit Längen
Das Stück "Intimate Stranger" besteht aus sich ständig wiederholenden, eintönigen Tagesabläufen der sechs Bewohner. Dabei werden die Riten immer schneller abgespielt und es gibt jeden Tag einige kleine Veränderungen. So kommen sich die sechs Männer jedes Mal ein bisschen näher - die Mauern der Anonymität bekommen Risse. Zu Beginn macht es noch Spaß, die kleinen Unterschiede zwischen den Tagesabläufen zu entdecken, aber auf Dauer geht die Geschichte, die Johanna Richter erzählen will, zu wenig voran. Bis es zur Auflösung und zum Showdown kommt, vergehen fast zwei Stunden ohne nennenswerte Fortschritte.
Aufgelockert wird das Theaterstück durch die Art der Darstellung. Statt mit Sprache wird pantomimisch gearbeitet - "Intimate Stranger" ist ein nahezu stummes Schauspiel. Doch die sechs Männer wirken in ihrer übertriebenen Pantomime wie Clowns auf der Bühne, und die Witze sind platt und abgedroschen -so versucht der Langfinger jeden morgen aufs Neue, sich die Fußmatte seines Nachbarn unter den Nagel zu reißen und wird ertappt.
Männer - nur ohne Tanz
"Männer und Tanz" ist das Motto der eigenen Programmschiene der SchauBurg beim DANCE-Festival 2012. Doch leider wird in der Komödie "Intimate Stranger" fast gar nicht getanzt., sondern mehr pantomimischer Slapstick betrieben. Von den sechs Darstellern sind drei Schauspieler und drei Tänzer - doch es fällt auf, dass die meisten nur in einer Disziplin stark sind. Und der Tanz, der beim DANCE-Festival doch im Vordergrund stehen sollte, bleibt in "EIntimate Stranger" meist auf der Strecke.
Nur ganz am Ende hat man endlich das Gefühl, dass einige der Schauspieler sich freitanzen, ihre Zwänge loslassen. Sie verausgaben sich, geben sich preis, sind emotional. Zuvor wurde immer rechtzeitig die Wohnungstür zugeschlagen, bevor einer zuviel über den anderen herausfinden konnte.
Integration in fünf Minuten
Diese Letzten sind wohl die berührendsten Momente im Stück - an Stelle von plattem Slapstickhumor sieht man jetzt Wärme, Nähe und Offenheit auf der Bühne. Die Themen "Multikulturelle Welt" und "Integration", die Johanna Richter oft in ihren Stücken beleuchtet, finden hier ihre Lösung: im gemeinsamen Tanz als Kommunikationsebene.
Gleichzeitig mit dem befreienden Tanzen, will auch endlich die gut ausgewählte Musik ins Stück passen: Neben viel Soul- und Bluesklängen von k.d.lang,, Llorca und Al Bowlly finden sich auch Archive oder Fat Boy Slim auf der Interpretenliste. Und wie der populäre Sänger Al Bowlly in den 30er Jahren es besang, genießen die sechs Männer am Ende "Midnight with the stars and you" ein gemeinsames Abendmahl bei Kerzenschein auf dem Hausflur. Dieses letzte ist wenigstens ein Bild, das einem vom Stück auf jeden Fall in Erinnerung bleiben wird.
Aufführungen des Stücks "Intimate Stranger" an der SchauBurg im Rahmen des DANCE-Festivals 2012:
3.11.2012, 17 Uhr (mit Produktionsgespräch nach der Vorstellung)
4.11.2012, 19:30 Uhr
Weitere Infos unter www.dance2012.de