Ein Überblick zum neuen deutschen Kino am Filmfest München 2013
Von Bullen-Bärchen und Hornhaut-Keksen
Spaßbefreit? Platt? Das neue deutsche Kino am Filmfest München 2013 ist amüsant, skurril und vor allem: selbstironisch.
Spaßbefreite Kunstfilme und plattes Unterhaltungskino? Das war gestern! Das neue deutsche Kino am Filmfest München 2013 ist skurril und vor allem: selbstironisch.
„Jedes europäische Land produziert einerseits fürchterlich spaßbefreite Kunstfilme und andererseits wahnsinnig plattes Unterhaltungskino. Dazwischen gibt es dann noch so wohlmeinendes Wellness-Arthouse für Brigitte-Leserinnen, denen man öfter mal mitteilen muss, dass das Leben bezaubernd ist. Und das ist alles gleichermaßen beschissen.“ Diese Zeilen schrieb der deutsche Regisseur und Drehbuchautor Dietrich Brüggemann im Februar 2013 in seinem Blog d-trick.de.
Schon letztes Jahr gab es am Filmfest München Anzeichen, dass sich das im deutschen Kino ändern wird: Jan-Ole Gersters Debüt „Oh Boy“ mit dem charakterstarken Hauptdarsteller Tom Schilling entwickelte sich zum Überraschungserfolg. Nach dem Förderpreis in der Kategorie Drehbuch am Filmfest 2012 räumte der Erstling auch beim Bayerischen und Deutschen Filmpreis mehrere Auszeichnungen ab. Der nostalgische und stimmungsvolle Schwarz-Weiß-Film schaffte genau das, was Dietrich Brüggemann vielleicht vermisst: Er verband Kunst mit Leichtigkeit und Satire.
Schlagkräftige Argumente für den Deutschen Film trotz "schwachem Jahrgang"
Dass Jan-Ole Gersters Abschlussfilm an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin zum meistbeachteten Film der Saison wurde, ist für Christian Peitz vom Tagesspiegel aber kein „Ruhmesblatt für die Branche“ – es spreche eher dafür, dass es ein besonders „schwacher Jahrgang“ sei. Es hat sich also nichts verändert: Die Kritiker sehen den deutschen Film nach wie vor als unliebsames Stiefkind, das nur belächelt wird und mit der internationalen Konkurrenz kaum mithalten kann.
Doch zumindest wenn man sich nach Dietrich Brüggemanns Kritik richtet, könnte sich das langsam ändern: Weder „spaßbefreite Kunstfilme“ noch „plattes Unterhaltungskino“ sind unter den 14 Weltpremieren der Reihe „Neues deutsches Kino“ am Filmfest 2013 zu finden. Von Schirmherr Christoph Gröner wurden sie als 14 „schlagkräftige Argumente“ für das junge deutsche Kino angekündigt.
Schlagkräftig heißt hier vor allem: Hier gibt’s kein Wohlfühlkino, sondern die Abgründe unserer Gesellschaft zu sehen. Die Themen sind zwar dramatisch, der Ton aber meistens sarkastisch und flachsend, die Bilder skurril, aber verständlich. Es beginnt sich etwas zu verändern: Das deutsche Kino experimentiert, erfindet sich neu.
Weg mit Berlin und der klaren Linie
Während letztes Jahr den deutschen Film am Filmfest noch viel Ähnliches geprägt hat, gibt es dieses Jahr keine klare Linie – jeder experimentiert ein bisschen in seine Richtung. Statt der einheitlichen Kulisse von Berlin und dem Thema der orientierungslosen deutschen Jugend schweift der Blick dieses Jahr ins ferne Afrika (Eröffnungsfilm „Exit Marrakech“, Bayern3-Publikums- und One Future-Preisträger „Freedom Bus“) oder in das Wellnesshotel von nebenan (Überraschungserfolg und Preisträger des Förderpreises neues Deutsches Kino in allen Kategorien: „Love Steaks“).
Junge Regisseure im skurrilen Filmlabor
Experimentierfreudigkeit in Form von skurrilen Bildern und Spontanität lässt sich vor allem in drei Werken von ziemlich jungen Regisseuren erkennen.
In Axel Ranischs „Ich fühl mich Disco“ mischen sich immer wieder traumartige Retro-Musicalsequenzen in die Coming-Out-Geschichte von Flori, die trotz vieler Themen nicht zu vollgepackt wirkt: Übergewicht, Tod der Mutter, Homosexualität, schwierige Vaterbeziehung. Der trashige Schlagersoundtrack von Christian Steiffen schwebt dabei irgendwo zwischen peinlich berührend und urkomisch. Das Zauberwort des Films heißt Improvisation: Nach fünf Jahren und elf Drehbuchfassungen hat Axel Ranisch dann doch nur die Figurenprofile und eine Handlung auf acht Seiten ausgearbeitet. „Und dann ist es auch vollkommen schwachsinnig, Dialoge zu schreiben, ich kann da jedem nur abraten!“, meint Axel Ranisch. „Wenn die Schauspieler in ihren Figuren stecken und die wissen, an welchem Punkt sie stehen, dann können die gar nichts falsch machen!“
Zwar nicht improvisiert, aber mindestens genauso skurril ist Frauke Finsterwalders „Finsterworld“. Sie deckt die Abgründe der Menschen auf – ihre kleinen und ganz großen Macken. Da gibt es den Fußfetischisten, der Kekse aus abgeschabter Hornhaut bäckt. Oder einen Polizisten, der gern Bärenkostüme trägt. Und gelangweilte Schnöselschüler, die eine Mitschülerin in einen Verbrennungsofen im KZ einsperren. An einem Tag passiert so viel Abwegiges und Zufälliges, dass der Film wie ein Traum wirkt – oder oft: Alptraum.
Highlight im neuen deutschen Kino: "Die Erfindung der Liebe"
Der wahrscheinlich bewegendste Film aus der Reihe Neues Deutsches Kino am Filmfest ist aber „Die Erfindung der Liebe“. Hier hat das Schicksal am Drehbuch mitgeschrieben: Während der Drehzeit 2011 starb die Hauptdarstellerin Maria Kwiatkowsky im Alter von 26 Jahren. Mit ihrer unverkennbaren Mimik, der rauen Stimme und gleichzeitig kindlichen Ausstrahlung galt sie als eine der besten deutschen Jungschauspielerinnen. Zwei Jahre später gibt es den fertigen Film jetzt trotzdem: „Wenn wir’s abgebrochen hätten, dann hätte es auch das, was wir mit Maria gedreht haben, nie gegeben“, erklärt Regisseurin Lola Randl. „Sie war so gut und es war so viel von ihr drin.“
„Die Erfindung der Liebe“ greift jetzt auf, dass die Hauptdarstellerin gestorben ist: Es geht also um einen Film im Film, ein skurriles Ebenenspiel mit der Geschichte des Filmteams. Statt einem melodramatischen Film präsentiert Lola Randl eine ironische Betrachtung der Beteiligten und ihrer Neurosen: von den eingebildeten Schauspielern über den Autor mit Schreibblockade bis zur naiven Praktikantin, die sich in den Hauptdarsteller verguckt.
Die Regisseurin wollte ganz bewusst nicht, dass es ein trauriger Film wird: „Was passiert ist, ist schon traurig genug. Ich weiß, was für ein Mensch Maria war und deswegen mussten wir es schaffen, dem Film etwas Heiteres zurückzugeben.“ Das Ergebnis ist ein komischer und ergreifender Film voller Überraschungen vor einem tragischen Hintergrund.
Man könnte das Schicksalsprodukt „Die Erfindung der Liebe“ als Paradebeispiel des aktuellen deutschen Films bezeichnen. Die Welt und sich selbst mit einem Augenzwinkern oder Sarkasmus betrachten: Das können die deutschen Filmemacher gut. Und durch diese Fähigkeit, aus realen tragischen und verrückten Begebenheiten etwas Leichtes zu machen, ohne den Inhalt seicht werden zu lassen – ist das nicht auch eine Kunst? Dietrich Brüggemann zumindest dürfte zufrieden sein.