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Wikileaks und die Scheinheiligkeit der deutschen Medien

Autor(en): am Donnerstag, 2. Dezember 2010
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Seit der Veröffentlichung des neuen Wiki-Leaks herrscht in den Medien eine selten dagewesene Selbstreferentialität und Geschwätzigkeit. Kritisiert wird vor allem Wikileaks. Dabei begeben sich die Medien durch die Auswahl der Veröffentlichungen selbst in die Verantwortung - größtenteils ohne ihr gerecht zu werden.


Spätestens seitdem die USA begannen sich präventiv für den Inhalt der bald öffentlich einsehbaren internen Diplomatenpost zu entschuldigen, herrschte in den Medienhäusern dieser Welt mindestens genauso viel Aufruhr wie in den Ministerien. Wie bereits bei den letzten beiden Großleaks der Whistleblower-Plattform, so standen die Dokumente auch diesmal einer Handvoll Medien zur Analyse vorab zur Verfügung. Zu "Spiegel", "Guardian", und der "New York Times" kamen diesmal noch die spanische "El País" und die französische "Le Monde" hinzu. Man einigte sich auf ein gemeinsames Veröffentlichungsdatum und die Vorfreude konnte beginnen.

"He's no Genscher." Really?

Ein Großteil der von den vorab beglückten Zeitungen veröffentlichten Details sind tatsächlich, wie von diversen Kommentatoren angemerkt, nichts weiter als "Cocktailgeschwätz" oder ein "Sturm im Wasserglas". Dass der deutsche Außenminister, wie die Dokumente behaupten, angriffslustig und profilneurotisch ist, galt auch in der deutschen Medienlandschaft längst als ausgemacht. Dass ein Bundesminister, der vor Amtsantritt sein späteres Ressort abschaffen wollte, als "schräge Wahl" bezeichnet wird, kann niemanden überraschen. Und dass die deutsche Bundeskanzlerin auf Kritik, gleich welcher Art, zumeist nicht umgehend mit einem Kurswechsel reagiert, war für die meisten Deutschen ebenfalls kein Geheimnis. Alle Informationen die vom "Spiegel" als Skandal ausgerufen wurden, spiegeln also lediglich die Mainstream-Meinung einer informierten Medienöffentlichkeit wieder.

Jeder der im Austausch mit Kollegen schon mal ein schlechtes Wort über den eigenen Chef verloren hat, sollte nachvollziehen können, dass auch Botschaftspersonal bei der Beurteilung der politischen Kaste des Gastlandes nicht immer diplomatisch formuliert. Schließlich geht es bei dieser Kommunikationsform eben nicht wie bei den meisten anderen bürokratischen Mitteilungen nicht um Etikette, sondern um Verständlichkeit und Erklärungskraft. In Diplomatenpost einen Code einzubauen, der beispielsweise bei der Formulierung von Arbeits- und Schulzeugnissen zum Einsatz kommt, kann für keinen der Beteiligten ein wünschenswertes Ergebnis des jüngsten Wiki-Lecks sein.

Geschwätzigkeit und Selbstreferentialität in den deutschen "Qualitätsmedien"

Die Auswahl und die Aufmachung der bisher veröffentlichten "Enthüllungen" zeichnet kein schmeichelhaftes Bild der deutschen Medien. Selbstreferentialität und Geschwätzigkeit sind Beschreibungen, die auf die erste Welle der Veröffentlichungen zutreffen. Auch der "Spiegel" ist hier als Übeltäter zu benennen. Laut eigener Aussage seit fünf Monaten mit 50 Redakteuren mit der Auswertung der Dokumente beschäftigt, entschied sich die Redaktion für einen Titel, der nicht etwa neue Erkenntnisse und Analysen in den Vordergrund stellt, sondern die Lästerwut und die Sucht seiner Leser nach Gesprächsstoff für den Kaffeklatsch befriedigt. Wenn diese Auswahl das Leserbild der Redaktion repräsentieren soll, dann kann man nur hoffen, dass sich der "Spiegel" irrt. Während zunächst allerorten die Negativurteile der Diplomaten über lokale Politiker veröffentlicht wurden, folgten als nächstes wahlweise die Welle der Warner oder die obligatorische Presseschau. Wem gar nichts mehr einfiel, der fügte noch eine Kommentare- und Blogschau hinzu und zitiert den User.

Eigene Recherche: Fehlanzeige. Warten auf die zweite Welle.

Dass der Hauptadressat kritischer Kommentare jetzt weder die USA noch die Medien sind, sondern Wikileaks, ist der Gipfel der Heuchelei. Medien, die mit der Website arbeiten und die Filterfunktion für die veröffentlichten Inhalte selbst übernehmen könnten, kritisieren die Depeschen wahlweise als nutzlos, geschwätzig oder gefährlich. Dabei veröffentlichen sie selbst doch eben diese Inhalte als Skandal. Allerdings finden sich in den Dokumenten durchaus politisch brisante Informationen. So berichtet der Spiegel ab Seite 96 der aktuellen Ausgabe (48/10) sowohl über die Spionageaktivitäten der Amerikaner im UN-Hauptquartier, die angeblich korrupte und islamistische Regierungspartei AKP des türkischen Premiers Erdogan und die Sorge arabischer Staaten über eine iranische Atommacht. Dabei werden in sämtlichen Geschichten jedoch lediglich die Analysen von US-Diplomaten wiedergegeben, die diese unter Bezugnahme auf Informanten angefertigt haben. Eigene Recherche, die über die Nutzung der auf Wikileaks veröffentlichten Dokumente hinausgeht: Fehlanzeige.

Das Material, das Wikileaks am Sonntag der Weltöffentlichkeit zur Verfügung gestellt hat, ist nichts anderes als Rohmaterial. Im Idealfall wird es von Journalisten verwendet, um die zweite Welle an Veröffentlichungen in Gang zu bringen: Informierte Reportagen, die auf die Diplomatenpost Bezug nehmen, mit eigener Recherche anreichern und dazu beitragen das Weltgeschehen transparenter und für den Bürger nachvollziehbarer zu machen. Das ist eine ungleich schwierigere Aufgabe, als die cablegate-Seite von Wikileaks nach despektierlichen Äußerungen über Politiker zu durchforsten, ist allerdings ebenso ungleich näher am journalistischen Ethos der Wahrheitsfindung. Wikileaks und investigative Recherche zusammen können dieses Ziel erreichen und eine Wirkung erzielen, die weit über die Stammtischenthüllungen der aktuellen Veröffentlichungen hinausgeht.

cablegate.wikileaks.org →

www.taz.de/1/leben/medien/artikel/1/die-regierung-... →

213.251.145.96/ →

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