René Maric im Interview
„Nicht Small Ball, sondern Skill Ball“
„Was er immer wieder abzieht, sucht seinesgleichen.“ René Maric über Stephen Curry.
Ein Fußballnerd nerdet über Basketball ab: René Maric zu den Warriors, Small Ball und dem Problem der Deutschen mit Statistiken.
Das Twitterprofil von René Maric ist schon lange kein Geheimtipp mehr. Über 7000 Leute klappern es regelmäßig ab, sofern man eben jene Followerzahl auf diese Art interpretieren darf. Es geht dort vor allem um: Fußball. Nicht um das Outfit von Pep Guardiola, nicht um den neuesten Thomas-Müller-Gag. Um Taktiken, Statistiken, Systeme. Und ab zu eben rutschen zwischen das Fußballgenerde auch mal Basketballkommentare. Weil die sogar richtig clever waren, habe ich RM, wie René Maric im Netz firmiert, gefragt, ob er nicht mal länger über Basketball reden will. Er sagte zu, nicht aber ohne zu Bedenken zu geben, dass er ein Laie sei. 30 Minuten später stand fest: Das mit dem Laie kann man streichen.
Eigentlich sprichst und schreibst du fast ausschließlich über Fußball, du bist mir dann aber mit klugen Tweets zu Basketball aufgefallen. Woher kommt das Interesse?
Fußball mag ich, weil es komplex und dynamisch ist. Basketball ist auch eine Sportart, wo es sehr viel Kommunikation, sehr viel Entscheidungsfindung, sehr viele unterschiedliche Abläufe gibt. Im Vergleich zu einer Sportart wie etwa Baseball sind Fußball oder Basketball deutlich dynamischer und das finde ich persönlich ansprechender.
Wenn man in der letzten Zeit über Basketball, und vor allem die NBA, redet, kommt man an den Golden State Warriors nicht vorbei. Sie könnten am Ende der regulären Saison die Rekordbilanz der Chicago Bulls aus dem Jahr 1996 (72 Siege, 10 Niederlagen) knacken. Jetzt wurde über sie schon fast alles geschrieben, daher vielleicht eine Stufe weiter: Haben die Warriors mit ihrem Stil – dem schnellen Tempo, den kleinen Aufstellungen sowie den vielen Dreiern – das Spiel revolutioniert?
Revolutioniert würde ich nicht sagen. Es hat immer wieder Mannschaften gegeben, die solche Aspekte genutzt haben. Spacing gibt es schon länger wie auch Mannschaften, die sehr auf den Dreipunktwurf fokussiert sind. Die Houston Rockets haben in den letzten Jahren mehr Dreier genommen als die Warriors derzeit. Golden State hat aber eine sehr gute Mischung. Sie kombinieren aus unterschiedlichen Spielstilen sehr viele Elemente. Sie nutzen Aspekt der Triangle, das Pick-and-Roll natürlich, die Motion-Offense, dazu Dribble-Drive. Das ist alles sehr flüssig. Sie lesen eine gegnerische Abwehr sehr, sehr schnell. Sie haben dazu ein unglaubliches hohes Tempo, sie werfen also sehr schnell, haben aber trotzdem sehr gute Würfe. Das erinnert an ein effizientes D'Antoni-Team, der mit den Phoenix Suns um Steve Nash damals quasi als Revolution galt. Wenn man sieht, dass seit Ende der 90er-Jahre immer mehr Dreier genommen werden, dass Spacing und Pick-and-Roll immer massiver eingesetzt werden, sind die Warrios jetzt am Ende der Nahrungskette. Sie spielen den modernsten, den komplettesten Basketball. Und was Stephen Curry natürlich immer wieder abzieht, sucht seinesgleichen.
Was die Warriors machen, gilt trotzdem als einzigartig. Warum können sie Sachen vereinen, die so noch nie vereint worden sind?
Der Trainerstab ist sehr wichtig. Ich habe Berichte gelesen, wie Steve Kerr trainiert, das ist sehr modern. Das sind auch Sachen, die im Fußball Einklang finden. Es wird viel Drei-gegen-Drei oder Vier-gegen-Vier trainiert. Aber die Warriors sind einfach komplett. Draymond Green kann Center, Power Forward und wahrscheinlich auch Small Forward spielen. Das hätte er vor 15 Jahren auch noch ziemlich sicher gemacht. Curry ist ein Point Guard, der das Spiel machen, aber auch abseits des Balles als Shooter spielen kann. Es gibt andere Spieler mit Point-Guard-Skills, die dann einspringen können. Die Warriors erkennen Situationen gut. Sie wissen, wer wann übernehmen muss. Das liegt auch an der Struktur ihres Spiel, das durchgehende Setzen von Picks, dann der Drive, dann der Kickout-Pass, dann wieder Pick, auch viele Flare Screens, Elevator und so weiter. Dazu kommt die extrem gute Ballzirkulation, das ist – mit Ausnahme der Spurs – unerreicht. Die Rockets fokussieren sich auch auf Dreierwürfe, aber die werden nicht so schön herausgespielt. Die Guards der Warriors gehen in den Frontcourt, nutzen dort die tiefer positionierten Frontcourt-Spieler beim Block und bewegen sich dann sehr schnell, drehen sich extrem sauber und bekommen so offene Würfe.
Das Besondere an Golden State ist: Man kann sie nicht kopieren. Ihr Spielermaterial ist einzigartig. Das gilt natürlich vor allem für Stephen Curry, den besten Schützen aller Zeiten. Aber auch für Draymond Green. Ist die öffentliche Wertschätzung gerade für ihn inzwischen angemessen?
Es ist schwierig, dass anhand der Medienberichte in Europa zu bewerten. Ich fand ihn im Frühjahr unterbewertet. Ich habe ihn damals schon sehr gut gesehen. Jetzt hat er sich nochmal gesteigert. Für mich ist er einer der acht besten Spieler der NBA. Dieses Komplettpaket bringt kaum jemand mit. Er öffnet für andere die Räume, kann aber auch selbst zum Abschluss kommen, wenn es benötigt wird. Er hat ein gutes Gefühl, wann er werfen muss und wann nicht, weil er eben doch kein Curry oder Thompson ist. Sein Passspiel ist einfach spektakulär. Unter den Forwards kann das sonst nur LeBron. Und das will was heißen.
Nach allem, was du jetzt gesagt hast: Gibt es überhaupt jemand, der die Warriors stoppen kann?
Über eine best of seven-Serie wird das für alle Teams schwer. Ich glaube, die San Antonio Spurs könnten es schaffen. Die sehe ich fast gleichauf. Was die Offensive der Warriors ist, ist die Defensive der Spurs: eine der besten aller Zeiten. Trotz der hohen Niederlage [Golden State hat San Antiono am vergangenen Montag mit 120:90 besiegt; d. Red.]. Die Cleveland Cavaliers haben das Spielermaterial dazu, es ist nur die Frage, wie es sich dort entwickelt. Sie haben den Vorteil, dass sie sich im Osten bis in die Finals sweepen könnten, während die Warriors sich eine Schlacht liefern müssen. Vor allem gegen San Antonio, vielleicht aber auch gegen die Thunder, denen traue ich das auch zu. Die Los Angeles Clippers hätte ich im letzten Jahr dazugezählt, jetzt aber nicht mehr. Die Mischung der Spielertypen ist nicht so gut, wie sie am Ende der Trading-Phase aussah. Man muss das eben über sieben Spiele sehen. Da wird es sehr schwer, die Offensive der Warrios zu stoppen. Sie setzen so viele Picks, spielen so viele Misdirection-Plays, wo man gar nicht weiß, was am Ende dabei rauskommt. Sie kommen einfach über die Masse an Picks. Jeder Spieler pickt konstant, es ist so schwer, da zu navigieren und die richtige Entscheidung zu finden. Sie spielen jeden kleinen Fehler sofort aus.
Ein Teil des Erfolgsrezepts der Warriors ist der Small Ball, eine Entwicklung, die es nun schon länger gibt. Wer hat damit angefangen? Waren es die Phoenix Suns unter Mike D'Antoni?
Wenn man das auf small beschränkt, hat es das schon ganz am Anfang gegeben. In den 60er-Jahren war die durchschnittliche Größe wesentlich kleiner. Dann kam George Mikan, später Wilt Chamberlain. Es war eine Zeit mit sehr geringen Schussquoten, was Letzterem unglaublich viele Rebounds und einfache Punkte eingebracht hat. Dazu war er für seine Größe koordinativ sehr stark. Danach gab's die Phase, in der man sich sehr viel auf die Größe fokussiert hat. Bei Small Ball ist immer die Frage: Was war wirklich bewusst? Was war Zufall? Wenn man es konzeptionell analysiert, waren es wohl wirklich D'Antonis Suns, die dadurch auch wirklich einen Vorteil gesucht haben.
Eine subjektive Frage: Ist Small Ball der Spielstil, der dir auch persönlich am meisten zusagt?
Ich hab sehr viel Footage von Bill Russell und Chamberlain gesehen, das war super, überhaupt nicht so altmodisch, wie man glaubt. Larry Bird, mein Lieblings-Basketballer, der nicht gerade athletisch war, hat von seinen Skills und von seinem Kopf gelebt. Auch wenn Michael Jordan im Post war, fand ich das sehr ansprechend. Ich bin keiner der sagt, man muss nur Dreier schießen. Es ist halt effektiver. Ohne die Dreierlinie und den Fokus darauf hätte man kein Spacing. Und ohne Spacing ist die Ballzirkulation sehr träge. Die alten Spiele waren oft schwer anzusehen, fast schon träge. Es ist sehr eng im Post, schwer dort zu spielen, dazu kamen sehr schwache Schüsse aus der Mitteldistanz. Weil es ganz früher noch keine Dreier gab, konnte man die Verteidigung nicht so bestrafen wie heute. Das hat sich erst in den 90er-Jahren mit den Rockets um Hakeem Olajuwon entwickelt. Ich finde Mischung sehr ansprechend. Man kann den Ball sehr schnell zirkulieren lassen, Räume im Post schaffen, dann dort hingehen und dann wieder inside-out spielen. Small Ball hat sehr viele, sehr schnelle Aktionen. Das gefällt mir.
Viele NBA-Teams haben auf Small Ball umgestellt, zum Beispiel lassen die Indiana Pacers Paul George als Power Forward spielen, früher war er mal ein Shooting Guard. Daher die These: Wer Meister werden will, muss Small Ball spielen.
Die Spurs könnten Meister werden und die machen es nur in einzelnen Spielen beziehungsweise in dieser Saison eigentlich gar nicht mehr. Ich kann mir vorstellen, dass es immer mehr davon geben wird. Ein anderes Beispiel: Paul Millsap bekommt bei den Atlanta Hawks Minuten als Center. Das halte ich für sehr gut, auch fürs Spacing. Es gibt immer mehr Rookies, die extrem groß sind, trotzdem aber Dreier werfen können, wie Kristaps Porzingis und Karl-Anthony Towns. In Zukunft wird man dynamisches Passspiel mit Größe und Dreier vereinen. Zach Lowe hat gemeint: Es geht nicht um Small Ball, sondern um Skill Ball.
Der Dreipunktewurf gewinnt in der modernen NBA immer mehr an Bedeutung. Ist Small Ball auch deswegen so wichtig, weil es der effektivste Weg ist, den Dreier auszuschöpfen?
Es ist auf jeden Fall hilfreich, wenn man Spieler hat, die sich sehr schnell bewegen und gut werfen können. Es gibt Studien, die zeigen, dass größere Spieler mit größeren Händen es schwerer haben, zu treffen. Das hat einfach physische Gründe. Ich finde es aber interessant, dass Spieler wie DeMarcus Cousins oder Towns von der Größe und Kraft sehr gut einen Center spielen können, gleichzeitig aber Freiwürfe und Dreier treffen. Wenn man solche Spieler hat, muss man nicht unbedingt auf Small Ball umstellen. Im Normalfall ist es hilfreich, wenn man sehr viele wendige Spieler hat, die sich gegenseitig einfach konstant Blocks setzen und Dreier werfen. Das ist ein riesiger Vorteil, den man nicht unterschätzen darf. Das sind nicht nur die Blocks und die Dreier selbst, sondern die Masse und Konstanz, in der man das machen kann. Beim Small-Ball-Line-Up der Warriors kann jeder Spieler sich schnell bewegen und trifft überdurchschnittlich gut. Man hat als Verteidigung nie eine Phase, wo man sich kurz bündeln und zum Beispiel die Lane schließen kann. Sag off? Dare to shoot? Nie möglich. Sie nutzen jede Gegenbewegung aus. Die Verteidigung ist ständig in Bewegung und kommt nicht zur Ruhe. Man muss die gesamte Zone bis zur Dreierlinie durchgehend covern. Egal, wer den Ball in der Hand hat. Außer bei Curry. Dann muss man sogar Meter über die Dreierlinie hinaus verteidigen.
Du bist jemand, der bei seinen Analysen und Texten sehr viel auf Analytics setzt. Wie fällt da der Vergleich zwischen Basketball und Fußball aus?
Im Basketball gibt es viel mehr Möglichkeiten. Das liegt daran, dass Basketball durch die Shotclock, durch die Spielerzahl, durch bestimme Regeln, dass man etwa nicht in die eigene Hälfte zurückspielen darf, begrenzter ist. Es ist einfacher, den Sport mit Zahlen und Daten zu erklären. Dazu kommt die amerikanische Kultur. Die Amerikaner sind extrem fokussiert auf jeglichen Vorteil. Wenn sie glauben, sie können durch etwas nur einen Minimalvorteil bekommen, dann machen sie es. Außerdem ist die Datenlage viel besser. Im Fußball müsste man massiv mit off the ball-Daten arbeiten. Im Basketball gibt es die. Es lässt sich jederzeit messen, wo ein Spieler mit welchem Abstand steht. Dadurch haben Analytics auch mehr Einfluss aufs Coaching. Es lässt sich ermitteln, wie der Gegner beim Pick-and-Roll reagiert, wie er sich verhält, welchen Spielern er folgt. Das lässt sich auch den Spielern zeigen. Das Niveau in den USA ist viel höher, die Daten arbeiten geschlossener und deutlicher ineinander als im Fußball.
Das Zahlenparadies im US-Sport ist super, aber auch nicht unproblematisch: Man findet so viele Zahlen, dass man sich fast jede Theorie damit zurechtlegen kann, wenn man lange genug sucht.
Daten benötigen Kontext. Man muss Metriken finden, die Kontext bieten. Ein Beispiel: Punkte pro Spiel. Das lieben die Amerikaner, es sagt aber nicht so viel aus. Nichts über die Effizienz, nichts über das Tempo des Spiels. Dann gibt es Metriken, die solche Sachen bereinigen: Zum Beispiel Zahlen hochgerechnet auf 100 Ballbesitze oder 36 Minuten. Dann gibt es noch bessere Metriken, die noch mehr Kontext haben, wo es dann schon schwieriger wird, Pseudoargumente anzubringen. Wenn man zum Beispiel die Arbeiten von Benjamin Morris sieht, wie detailliert und stark auf Zahlen sie eingehen, dann wird es schwer, dagegen zu argumentieren. Denn seine Metriken und der Kontext schließen eine Vielzahl von Gegenargumenten aus. Das ist alles natürlich sehr komplex und ab einer gewissen Grenze der Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich. Einiges steht nur den Vereinen zur Verfügung. Aber es gibt natürlich sehr viele Zahlen, mit denen man sich die Argumente basteln kann. Für den Diskurs und die Entwicklung hilft das aber trotzdem.
Einen Daten-Diskurs gibt es in der deutschen Sportszene nicht wirklich. Im Zweifel wird immer noch „Die haben das einfach mehr gewollt“ als Argument benutzt. Warum ist das so?
Die Öffentlichkeit ist dafür nicht sensibilisiert. Anders als in den USA ist der Fokus auch nicht von den Vereinen selbst ausgegeben. Wenn zum Beispiel Vereine in Europa damit arbeiten würden, Erfolg hätten und das auch nach außen kommunizieren würden und Daten dazu frei zugänglich sind, dann würde sich das ändern. In den USA geht man einfach auf basketball-reference.com oder NBA.com und findet unglaublich viele Zahlen. Wenn man sich dann noch etwas mit Mining-Programmen auskennt, kann man noch tiefer gehen. Grantland [grantland.com, eine vom ESPN betriebene Sportseite, die inzwischen aufgelöst wurde; d. Red.] hatte zusätzlich einen Vertrag mit Tracking-Daten. Das ist in Europa einfach anders. Wenn man als Blogger versucht an solche Daten zu kommen, dann kostet das sehr viel. Was auch gerechtfertigt ist, weil das sensible Daten sind, mit denen man sehr viel machen kann. Aber es ist die Frage: Ist der Mehrwert gegeben, wenn man dieses Geld ausgibt, obwohl die Leser anfangs und mittelfristig nicht vorhanden sind? Was will die Öffentlichkeit? Viele wollen das Gerede von grit and grind schlichtweg. Was war das größte Thema nach den ersten zwei Finals-Spielen im letzten Jahr? Curry gegen Dellavedova. Da haben die eine Heldengeschichte daraus gemacht. Es ist einfach was Menschliches. Leute, die im Mainstream sind, suchen Spektakel. Für die Medienanbieter ist es daher besser, wenn sie das so handhaben. Ich persönlich finde, dass man solche Geschichten trotzdem mit Zahlen begründen kann. Diese Verbindung muss man suchen.
René Maric, 23, ist einer der klügsten Fußballköpfe in Deutschland. Er schreibt vor allem für den Taktikblog spielverlagerung.de (hier eine Liste seiner Texte). Gemeinsam mit Marco Henseling hat er das Buch „Fußball durch Fußball: Das Trainerhandbuch von spielverlagerung.de“ herausgebracht.