Kennen wir uns?
2,5 Prozent der Deutschen leiden unter Prosopagnosie oder Gesichtsblindheit. Die Betroffenen erkennen im schlimmsten Fall ihren Vater nicht mehr, wenn sie ihm unerwartet auf der Straße begegnen. Wir haben mit einer Betroffenen gesprochen und erfahren, wie sich die Gesichtsblindheit auf das Alltagsleben auswirkt.
„Ich hatte schon immer das Gefühl, irgendwas ist bei mir anders als bei den anderen. Ich konnte aber nicht feststellen, was es ist. Irgendwann habe ich das Wort „gesichtsblind“ im Fernsehen gehört und habe es dann nach einiger Zeit nachgeschlagen, weil es mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen ist. Dabei bin ich auf den Begriff „Prosopagnosie“ gestoßen. Ich habe mir das durchgelesen und festgestellt: Das ist der Grund.“
Die Betroffene leidet schon seit ihrer Geburt unter der Gesichtsblindheit. In der Schule wurde sie dadurch zur Außenseiterin und auch später hatte sie mit dem Problem zu kämpfen:
„Während des Studiums lernte ich dann sehr viele Jungs und Mädchen kennen. Es kam auch zu vielen Verwechslungen. Sehr peinlich war es, als ich einen festen Freund hatte, und ihn eines Tages in der U-Bahn stehen sah. Ich ging zu ihm hin und umarmte ihn und wollte ihn küssen. In dem Moment bemerkte ich an seinem Blick, dass etwas nicht stimmte. Und als er den Mund aufmachte, hatte er eine ganz andere Stimme. Ich stieg an der nächsten Station aus und zitterte am ganzen Körper. So etwas Idiotisches war mir noch nie passiert. Ich beschloss, niemanden mehr anzusprechen, sondern nur noch zu warten, bis die anderen mich ansprachen. Wenn sie mich kannten, taten sie das auch.“
Ursachen
Prosopagnosie ist eine Teilleistungsstörung des Gehirns. Es gibt sie einerseits als angeborene Form, bei der Betroffene mit der Schwäche aufwachsen. Sie fragen sich dann zumeist, warum alle anderen keine Probleme haben, sich Gesichter zu merken. Es gibt aber auch die erworbene Variante, beispielsweise nach einem Schlaganfall oder einer Gehirnverletzung. Die Betroffenen merken dann, dass ihnen eine wichtige Fähigkeit abhanden gekommen ist.
„Als ich dann kleine Kinder hatte, war es für mich immer extrem schwierig, sie auf dem Spielplatz zu finden. Besonders mein Sohn hatte auch noch die Angewohnheit, ständig zu verschwinden und nie mehr zurückzukommen. Oft war er auf der Suche nach mir, lief aber ganz wo anders hin und fand mich nicht. Und ich ihn auch nicht. Das waren teils schlimme Aufregungen. Ich behalf mich damit, den Kindern außergewöhnlich grelle Oberteile zu kaufen. Dann musste ich nur nach den jeweiligen Farben Ausschau halten. Eine Katastrophe war es jedoch im Schwimmbad. Wie oft habe ich in voller Panik den Boden eines Schwimmbeckens nach einem womöglich untergegangenen Kind abgesucht.“
Betroffene können Gesichter zwar nicht identifizieren, können sich aber durch andere Merkmale wie Geruch, Gang, Stimmfarbe oder Haarschnitt helfen. Sie erkennen, ob jemand alt oder jung, männlich oder weiblich ist. Meist trifft man die Menschen in gewohnter Umgebung, wo man die einzelnen Personen dann erfahrungsgemäß zuordnen kann. Der dünne, große Blonde mit dem feinen Anzug, das wird der Chef sein. Ein Problem ist es nur, wenn Betroffene diesen Personen in ungewohnter Umgebung begegnen.
Ein Problem, das verbreiteter ist, als man denkt
„Eine Mutter teilt jedes Mal denselben Seitenhieb in meine Richtung aus – ich begegne ihr anscheinend ständig auf der Straße und "will' sie dann jedes Mal nicht kennen. Das sei total arrogant von mir. Ich entschuldige mich jedes Mal, aber sie betrachtet mich vermutlich als extrem dumme Kuh. Auf der Straße kenne ich sie dann beim nächsten Mal schon wieder nicht. Inzwischen weiß ich, dass sie bei der Kinderärztin arbeitet. Seit ich das weiß, erkenne ich sie dort auch jedes Mal wieder. Aber auf der Straße nicht."
Erst beim Nachlesen über die Prosopagnosie im Internet fand sie heraus, dass sie mit ihrem Problem nicht alleine war. Sie versuchte durch Gedächtnis- und Konzentrationstraining herauszufinden, ob sie durch stetes Üben eine Verbesserung ihrer Lage erzielen könne. Ihre Bemühungen blieben erfolglos.
Leben mit Prosopagnosie
Mittlerweile hat sie sich mit ihrem Problem arrangiert. Ihren Freunden hat sie von der Gesichtsblindheit erzählt. Auch neuen Bekanntschaften erklärt sie ihr Problem. Seitdem funktioniert es sehr viel besser. Sie wird öfter angesprochen, die anderen erkennen sie schließlich und sind auch nicht mehr böse, wenn sie nicht zuerst gegrüßt werden. Die meisten finden die Erklärung sogar sehr interessant, da „Prosopagnosie“ noch nicht so bekannt ist.
„In einem Programmheft wurde ein Foto von mir abgedruckt, darunter stand ein Spruch aus einem Gespräch mit mir: "Unser Stadtteil ist wie ein Dorf, wo man alle kennt.'" Naja, eigentlich ist es so, dass mich jeder kennt. Und wenn man mich anspricht, dann weiß ich auch wieder, wer das ist. Meistens.“